Reisen in unbekannten Gewässern

Von Ben Hadamovsky

Was passiert, wenn sich sechzig Menschen drei Tage ohne vorgegebenes Thema, Konzept und Moderation treffen? Bericht von einem nicht-linearen Experiment:

Eigentlich sind wir ein sehr strukturiertes und gut organisiertes Dorf. Wir sind in Genossenschaft, Verein und Stiftung gegliedert. Jeder Bereich hat ein Organisations-Papier, gewählte Verantwortliche und es gibt eigene Formulare für das formvollendete Stellen von Anträgen an die entsprechenden Entscheidungsgremien. Wir haben sogar einen stellvertretenden Trampolinbeauftragten. Trotzdem verschwinden regelmäßig die Gemeinschaftstassen aus der Kantine an einen unbekannten Ort und die Frage „Wie gehen wir eigentlich mit Gemeinschaftseigentum um?“ führt immer wieder zu frustgeladenen Mails in den Dorfverteiler und eigentlich wichtige Dinge fallen plötzlich unter den Tisch. So hatten wir kürzlich sogar „vergessen“ ein Team damit zu beauftragen, die anstehende Herbstintensivzeit vorzubereiten. Nicht mal eine Thema war festgelegt worden.

Was zunächst wie eine organisatorische Unaufmerksamkeit schien, hat sich im Nachhinein als echte Chance herausgestellt. Zu Beginn gab es die Frage: „Ob es einfach gerade nichts zu klären gibt in der Gemeinschaft?“ Das ist natürlich ein Witz, denn es gibt so viele Themen auf der Agenda, dass es weit mehr als drei Tage benötigen würde, um sie auch nur ansatzweise anzugehen.

Vielleicht war auch einfach gerade „die Luft raus“? Nach 1,5 Jahren durchaus intensiver Auseinandersetzung vor allem mit dem allseits beliebten C-Thema wäre eine gewisse Auseinandersetzungsmüdigkeit durchaus verständlich. Letztlich haben wir uns dann entschieden, uns ohne Thema, Team und Moderation zu treffen. Ein echtes All-Leader Experiment.

Ich selbst bin mit sehr gemischten Gefühlen in das Treffen gegangen. Als Nautiker liebe ich nicht nur eine gute Planung und Vorbereitung von Reisen, sondern halte sie auf dem Meer für Überlebensnotwendig. Jetzt auch noch vor dem Ablegen in unbekannte Gewässer keinen Steuermann und Navigator zu bestimmen, schien mir eher fahrlässig denn mutig. Würde überhaupt jemand zu einer Veranstaltung ohne Thema, zu einer Reise ins Blaue kommen? Werden die üblichen Verdächtigen doch wieder in ihre alten Führungsrollen fallen? Werden wir die schmerzhaften Themen vermeiden und nur sanft alle Konflikte umschiffen? Oder werden wir im Chaos versinken und krachend Schiffbruch erleiden? Um es kurz zu fassen: Ich habe mich  ordentlich geirrt! Meine Ängste und Sorgen erwiesen sich als unbegründet.

Mit knapp sechzig Menschen begannen wir die drei Tage mit einem Wir-Prozess, einem von uns als Gemeinschaft gut erprobten und vertrauten Format. Er wirkte wie Fahrwassertonnen auf dem Weg zum offenen Meer und half uns in Verbindung zu kommen und Fühlung miteinander aufzunehmen.

Viele waren positiv überrascht von der hohen Teilnehmerzahl. Aber es gab immer noch die Frage: „Was würde danach geschehen? Kann es gelingen mit so vielen Menschen ohne Moderation, Plan und Führung zu arbeiten?“. Zunächst verfielen wir in eine eher angespannte und ratlose Stille. Nachdem sich meine erste Unruhe gelegt hatte, gelang es mir meine Aufmerksamkeit ,mit einem fragenden Lauschen in den gemeinsamen Raum zu lenken: „Was will hier und in diesem Moment werden? Wofür wird dieser Kreis ein Gefäß?“.

Die Aufmerksamkeit von sechzig fokussierten Menschen erzeugt offensichtlich einen kräftigen Sog. Themen schälten sich heraus, wurden intensiv bewegt und blieben doch offen und weit. Überraschenderweise blieben wir bis auf wenige Ausnahmen durchgängig in einer Art Wir-Prozess-Modus. Keine hitzigen Debatten entstanden, selbst bei wirklich schmerzhaften Themen und Konflikten rund um das allseits beliebte Thema Bauen. Und das alles ohne Moderation! Es war, als würden wir gemeinsam einen neuen Zustand erzeugen: Getragen und verantwortet von allen Anwesenden entstand eine Art kollektives Aufmerksamkeitsfeld, das aus sich selbst heraus entscheidet und führt, Themen einlädt und Offenheit erzeugt für unerwartete Gedanken und Impulse.

Wir waren als Gemeinschaft von All-Leadern gestartet, um diesem Raum entstehen zu lassen. Offenbar hat dieser Raum dann seine eigene Führung übernommen. Die gelegentlich auftauchenden Versuche konkret zu werden, Themen zu verorten und eine Agenda für die Zukunft zu schaffen, fanden keine Resonanz. Auch mein Verstand meldete sich immer wieder mit der Frage: „Was macht es es für einen Sinn, so gemeinschaftlich zu Schweben und zu Tasten? Wie geht es danach weiter?“.

Wir haben darauf keine konkreten Antworten gefunden. Die Intensivzeit endete ohne „Ergebnisse“. Abgesehen von der Aufklärung des Rätsels, wohin die Gemeinschafts-Tassen verschwinden – sie sind im Earthship gelandet! Im landläufigen Sinn würde man sie darum wohl eher als gescheitert verbuchen.

In mir fühlt es sich aber gänzlich anders an. Die drei Tage haben – neben einigen unerwarteten Impulsen und Ideen – in mir eine starke Verbundenheit entstehen lassen und ich vermute es geht den Anderen ähnlich. Dazu kommt eine gewachsene Bereitschaft mit dem Unvollkommenen zu leben. Es ist kein Untergang oder gar Scheitern, wenn ich als einzelner oder als Team an einer Stelle nicht weiter komme. Es kann sogar sehr förderlich sein, wenn wir unsere Projekte immer wieder mit der Haltung in die Gemeinschaft tragen: „Seht her, soweit sind wir gekommen. Nun brauchen wir eure Hilfe und Unterstützung, da wir nicht weiter wissen.“

Gewachsen ist auch mein Vertrauen in die erweiterten Möglichkeiten des Wir-Prozesses, der uns seit der Gründung der Gemeinschaft begleitet. Das Format war vor allem in der Anfangszeit ein starkes Werkzeug für die Gemeinschaftsbildung. In den letzten Jahren hat es seine zentrale Stellung mehr und mehr verloren, wurde ergänzt durch andere Methoden, wie z.B. Forum und diente immer öfter als kurze Sequenz zur Wiederverbindung in großen Versammlungen und Plenen, wenn wir uns in Diskussionen verstrickt hatten.

Eigentlich hatten wir uns dazu verpflichtet jedes Jahr an mindestens drei solcher Prozesse teilzunehmen. In der Realität waren beim letzten „offiziellen“ Wir-Prozess drei Menschen dabei. Umso überraschender war es jetzt für mich, dass wir das Format als Grundstruktur beinahe für die ganze Intensivzeit genutzt haben. Wir haben das Format offenbar als Gemeinschaft so verinnerlicht, dass wir nun mit dessen Unterstützung – und darauf aufbauend eine neue Ebene des gemeinschaftlichen Arbeitens erreichen können.

Seine Grundempfehlungen:

  • Sprich von dir und deiner momentanen Erfahrung
  • Formuliere nicht schon eine Antwort während der Andere spricht
  • bleibe bis zum Schluss

haben uns durch diese Tage getragen und bildeten die Grundlage einer neuen Erfahrungsebene. So können wir zukünftig Räume des fokussierten kollektiven Nicht-Wissens entstehen lassen, um Antworten und Wege zu entdecken, die wir mit unseren üblichen Werkzeugen und Techniken vielleicht glatt übersehen hätten?

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