Ende September haben wir – sechs Tempelhofer:innen (61 – 78 J.) am Symposium unserer Sulzbrunner Schwestergemeinschaft im Allgäu teilgenommen. Es waren 5 dichte, inspirierende, horizonterweiternde, teils aufwühlende Tage. Im Bogen von welt- und zeitenumspannenden Märchen und Mythen zum zeitlosen Werden und Vergehen bis zu der rauhen, empörenden „Lebens“-Wirklichkeit von Hochbetagten in durchökonomisierten Pflegeeinrichtungen (Claus Fussek) gab es viele Impulse, die Kopf, Herz und Seele in Schwingung versetzen konnten. Unmöglich, davon im Einzelnen zu berichten – aber ein paar Eindrücke und Inspirationen möchten wir gerne weitergeben. „Wir werden nicht alt, wir werden neu“ (Michael Plesse im Beitrag über Spiritualität und innerer Weg) oder „der alte Mensch ist der vollständigste (= nicht perfekteste) Mensch aller Generationen“ (Ingrid Riedel im Vortrag über Alte Weise. Von der inneren Freiheit des Alters). Wunderschöne Zukunftsbilder für uns Ältere, oder?
Vera Zingsem, Begründerin von polythea e.V., ließ uns Hörer:Innen tief in die Geschichten der verdrängten Göttinnen aus der keltischen Mythologie eintauchen und teilhaben – an den dort aufgezeigten Einweihungswegen für Frau und Mann und der Rolle der alten Weisen dabei: Eine funkelnde, gar mitreißende Gelegenheit, sich in dem Größeren der Ahnengeschichte zu verankern.
Freilich, das Altern lässt dieses „Neu, Ganz werden“ nicht von alleine geschehen. Dahinter steht ein Bewusstsein davon, dass es um Transformation geht, um den Blick nach Innen, die Integration von allen Aspekten unseres bisherigen Lebens, auch der Schatten. Um ein sich Öffnen für Neues, Unbekanntes, Werdendes. Um die Auseinandersetzung mit dem Tod – und die Weisheit und Lebenskunst, die daraus erwächst. Es war wohltuend, solche Themen im Kreis von so vielen körperlich durchaus Älteren, seelisch und geistig jedoch frischen Menschen zu bewegen. Passende Methoden (wie Council-Runden oder Schwellengänge) schufen den Raum, um die aufgeworfenen Fragen im Herzen zu bewegen und auf Antworten jenseits der Verstandesoberfläche zu lauschen.
Ethischer Diskurs in der Zivilgesellschaft ist nötig – wir sind Teil davon
Es ging keineswegs nur um die individuelle Voll-Endung des Lebens, sondern um unseren möglichen Beitrag in der gegenwärtigen, aus den Fugen geratenen Welt. Claus Fussek (im Beitrag zum Pflegenotstand) kommt nach 40 Jahren Einsatz gegen die Mißstände in Pflegeheimen zum Ergebnis, dass die Lösung nicht von der Politik zu erwarten ist, sondern dass sich die Zivilgesellschaft der Frage stellen muss, wie es geschehen konnte, dass Angehörige der Generationen, die nach dem Krieg dieses Land wieder aufgebaut haben, in ihrer letzten Lebensphase oft so allein gelassen und ausgeliefert sind? Was ist in Familien passiert, dass alte Angehörige keinen Besuch mehr erhalten? Was ist in Gemeinden passiert, dass Pflegeeinrichtungen in die Hände von börsennotierten Unternehmen gelegt werden?
Wozu Claus Fussek auffordert, ist eine ethischer Diskurs über den menschenwürdigen Umgang mit alten, hilflos gewordenen Menschen. Darüber, dass sie keine irgendwie am Leben zu erhaltende und zu versorgende Objekte sind, sondern Mitbürger:innen, denen als Subjekt auf Augenhöhe begegnet wird*. Als „Zukunftswerkstättler“ haben wir Tempelhofer:innen uns Lebensumstände geschaffen, die uns persönlich von Sorgen dieser Art fernhalten. Aber es nagt die Frage: genügt dies?
Wie geht es weiter?
Es scheint, als wäre in Sulzbrunn ein Impuls gesetzt worden, der Fahrt aufnehmen möchte. Ich (MarieLuise) habe in meinem Leben schon viele Tagungen besucht und mitorganisiert – selten habe ich am Ende so viel lebendige Energie und Lust am Weitermachen bei den Teilnehmenden erlebt. So fühlt es sich an, wenn Menschen „bei sich angekommen“ sind, „Daseinskompetenz“ (Ingrid Riedel) entwickelt haben, daraus schöpfen und selbstermächtigt gestalten wollen. Welch ein Potential! Und wir sind jetzt schon mehr als 30% in der Gesellschaft!
Das Format dieses Symposiums soll künftig an anderen Orten, in anderen Regionen angeboten werden. Lokale kleine Gruppen wollen sich treffen und miteinander die neue lebendige Kultur des Älterwerdens vertiefen. Vernetzung unter einander, zur Verfügung stellen von Kompetenzen… – Wir dürfen gespannt sein auf die Nachbereitung aus Sulzbrunn und weitere Impulse von dort.
Was haben wir Tempelhofer:innen mitgenommen?
Auch wir wollen am Faden der neuen Kultur des Älterwerdens weiterspinnen. Wir haben begonnen, uns auf der Ebene unseres gelebten Lebens zu begegnen und unsere persönlichen Themen des Älter-Werdens uns anzuvertrauen. Wir empfinden, uns damit etwas Wertvolles zu schenken: Ermutigung und Beglückung auf dem paradoxen Weg des zunehmenden Loslassens und der schrittweisen Wahrnehmung von Freiheit jenseits aller Konditionierungen. Wir wollen in kleinen Kreisen unseren tiefsten Ängsten auf die Spur kommen und uns ermutigen, neue Wege zu beschreiten. Die Kraft der Vision wird uns dabei unterstützen, mehr und mehr unser Leben im höheren Alter selbstbestimmt – befreit auch von innerlichen Grenzen – zu gestalten.
Erst für uns, dann innerhalb der Gemeinschaft – und dann? Wer weiß!
MarieLuise Stiefel, Thomas Waldhubel, Regina Karrenbauer
* Im Nachklang, beim Schreiben dieser Zeilen, möchte ich (MarieLuise) den Gedanken anfügen: Müssen sich westliche Bürger:innen im 21 Jahrhundert im Umfeld eines Turbo-Kapitalismus nicht überhaupt erst wieder eine Kultur erobern, in der sie sich selbst als Subjekte erleben? Um anderen Menschen als Subjekt auf Augenhöhe begegnen zu können? Genau das ist es unter anderem, was wir in Gemeinschaft (mühsam) lernen: Uns wechselseitig nicht als Objekte zu funktionalisieren, sondern als Subjekte miteinander in Beziehung zu gehen. Diesen Faden weiterzuspinnen, könnte Inhalt einer nächsten Veranstaltung sein, in Sulzbrunn oder anderswo.