Wertschätzung ist ein ausgesprochen vertracktes Thema. In den nun 10 Jahren unseres Miteinanders haben wir viele unterschiedliche Erfahrungen von gelungener und von misslungener gemeinschaftlicher Wertschätzung gemacht. Da beklagt sich jemand unterschwellig, keine Wertschätzung zu bekommen. Jemand anderes ist davon genervt, wie die Gemeinschaft manchmal Wertschätzung ausdrückt („Dieses Händewackeln könnt ihr euch sparen“). Da liegt während einer Versammlung in der Luft, dass nun eine wertschätzende Geste für Jemand fällig wäre, aber keine(r) rührt sich. Da will Jemand auf gar keinen Fall eine öffentliche Wertschätzung im Dorfplenum, aber andere wollen partout wertschätzen.
Dass eine gelingende „Wertschätzungskultur“ grundlegend für die Umsetzung der Vision unserer Zukunftswerkstatt ist, ist uns wohl allen bewusst, zumindest im tiefsten Inneren. Jedoch dort hin zu gelangen, dass sie zu einer natürlichen, unbelasteten und alle Beteiligten nährenden Geste wird, ist eine unserer persönlichen und gemeinschaftlichen Entwicklungsaufgaben.
Gelungene Gesten
Wir haben etwas ganz Wunderbares bei uns: das „Körbchen“. Es begab sich eines Tages, dass ein Tempelhofer (in dem Fall stimmt die männliche Form) einfach mal, ohne es mit irgendjemand abgestimmt zu haben (!), in einer Intensivzeit einer Tempelhoferin ein Körbchen überreichte, gefüllt mit zahlreichen kleinen Geschenken, als Dank dafür, dass sie sich immer so liebevoll um seinen Sohn gekümmert hatte. Das kam von Herzen – und es kam an. Seither wandert dieses Körbchen immer mal weiter und tritt völlig unerwartet in Erscheinung. Meist wird es jemand zugedacht für eine Eigenschaft oder einen Beitrag zum Ganzen, der eher klein und fein ist, vordergründig nicht die Welt im Ganzen zu bewegen scheint, aber das Miteinander liebenswert macht.
Wir hatten auch schon große Gesten, in denen sich gemeinschaftliche Wertschätzung spontan Bahn gebrochen hatte – als zum Beispiel ratz-fatz Geld gespendet wurde, um jemandem ein Sabbatjahr zu finanzieren.
Wertschätzung üben
Wertschätzung ist eine Sonderform von Kommunikation. Ob sie gelingt, hängt vom Sender wie vom Empfänger ab. Aus dem Wir-Prozess ist uns die Erfahrung vertraut, dass authentische Begegnung spontan erfolgt und auf der Ebene der Herzen stattfindet. Das scheint auch das Geheimnis glückender Wertschätzung zu sein. Machen, einfordern, planen lässt sie sich nicht. Aber wir können Übungsräume schaffen, um uns mit Geben und Empfangen von echter Wertschätzung vertraut zu machen.
Damit haben wir in der Winterintensivzeit begonnen.
Der Focus beim Rückblick auf das Jahr 2019 lag auf dem Thema Wertschätzung und Anerkennung. Wir begannen beim „Ich“: „Wenn ich zurückblicke, wie ich 2019 gestaltet habe. Was möchte ich bei mir anerkennen? Wofür möchte ich mich wertschätzen?“ In Dreier-Gruppen hatte jeder 10 Minuten Zeit zum Sprechen, die beiden andern hörten auf tiefe Weise zu. Danach ging es weiter zum „Du“. Diese Übung tauften wir „Wertschätzungsdusche“. In 6er-Gruppen hörte jeder, auf einer Art Thron sitzend, von 5 „Du’s“ 8 Minuten lang Wertschätzendes. Danach war kurz Zeit für eine individuelle Reflexion: „Welche Wertschätzung fiel mir einfach anzunehmen? Fühle ich mich vollständig gesehen?“
Im dritten Schritt ging es um das „Wir“: Welche Schätze haben wir in 2019 gemeinsam geschaffen? Wir gingen in kleineren Gruppen auf unserem Gelände auf Schatzsuche und erstellten dann gemeinsam mit viel Freude eine Schatzkarte – sie ist reich gefüllt, wie auf dem Foto oben zu sehen ist.
Abgesehen davon, dass dieser gemeinsame Wertschätzungsraum sehr nährend war, haben unsere Erfahrungen viele Impulse und Themen zur persönlichen und gemeinschaftlichen Wertschätzungskultur am Tempelhof aufgeworfen, wie „Wie abhängig bin ich von Wertschätzung“, „Wie diejenigen wertschätzen, die nicht sichtbar sind“, „Wie das Besondere wertschätzen, ohne das Alltägliche abzuwerten“, „Von Wertschätzung und Dankbarkeit zur Zufriedenheit kommen“, „weniger Projektion ermöglicht mehr Wertschätzung“ , „Wertschätzung auf der Beziehungsebene versus leistungsbezogene Wertschätzung“ – und wie machen wir Wertschätzung zu einem Bestandteil unserer Kultur, ohne dass daraus Rituale werden, die den/die Einzelnen nicht erreichen?
Paradox
Auf dem Weg zur authentischen Wertschätzung melden sich leider Gottes oft erstmal eher unschöne Gefühle: Mangel, Neid, verdrängte Sehnsüchte, falsche Bescheidenheit, Selbstwertthemen, ungeheilte Schmerzen von Abgelehntsein, von Manipuliertwerden. Festgefügte Selbstbilder müssen manchmal aufbrechen, damit die Wertschätzung im eigenen Inneren überhaupt Platz nehmen kann. Ehrlich gesagt, war ich bei der Wertschätzungsdusche froh, dass meine 8 Minuten endlich herum waren – für so viel Wertschätzung war meine innere Aufnahmekapazität nicht ausgelegt.
Durch dieses Gestrüpp an unerlösten inneren Themen gehen wir immer wieder durch, wenn wir in der Gemeinschaft jemanden öffentlich wertschätzen. Ganz schön schwierig. Ganz schön!
MarieLuise Stiefel