Wofür gehe ich? – Für eine angstfreie Zukunft

Betrachtungen einer 18jährigen

Mein Name ist Annika, ich lebe in der Gemeinschaft Tempelhof. Mit meinen persönlichen Erfahrungen und Gedanken wende ich mich vor allem an meine eigene Generation.

Zu Beginn eine kleine Geschichte.
Vor zwei Wochen bin ich am Samstagvormittag mit meiner Mutter auf den Wochenmarkt einkaufen gefahren. Auf dem Parkplatz habe ich mir zwei große, selbst gestaltete Schilder vorne und hinten umgehängt und bin damit losgezogen. Von Schaufenster zu Schaufenster, von Stand zu Stand.

Erst einmal geht es mir rein darum, was ich bei meiner Aktion empfand.

Wie fühlte ich mich, als ich mit meinen großen Schildern durch die Straßen lief? Wie, als mich die Leute auf der Straße anschauten oder ansprachen?

Zuerst habe ich es für mich als komisches und unangenehmes Gefühl beschrieben. Doch wenn ich mir meine Gefühle genauer ansehe, dann realisiere ich, dass ich Angst empfand. Angst vor dem Bewertet und Ausgestoßen werden.

Laut dem Neurobiologen Gerald Hüther haben alle Menschen ein tiefes Grundbedürfnis nach menschlicher Verbundenheit. Wir brauchen andere Menschen und eine vertraute, geliebte Verbindung zu ihnen, um uns selbst als Mensch zu fühlen. An Einsamkeit kann der Mensch zugrunde gehen. Aus diesem Grund versuchen wir dieses Bedürfnis zu befriedigen. Wenn wir es nicht befriedigen können oder es gefährdet sehen, entsteht in uns ein sogenannter „inkohärenter Zustand“. Dieser inkohärente Zustand ist nichts anderes als jenes „Unwohlsein“, das ich an jenem Vormittag empfand.

Ich möchte noch ein wenig weiter ausholen.

Um sich verbunden zu fühlen, ist es erst einmal leichter, der Menge zu entsprechen, nicht aus der Masse hervorzustechen. Denn in unserer Gesellschaft herrscht erstens ein stark polarisierendes Bewertungssystem, welches tief in unser aller Köpfe verankert ist. Und zweitens, und das macht das Ganze noch komplizierter, wünschen wir uns eine Verbundenheit mit allen Menschen unserer Gesellschaft. Wir glauben, dass das nur dann entstehen kann, wenn wir alle auf der gleichen Seite stehen. Und alles, was wir von dieser Seite wahrnehmen, wird von uns nicht nur wahrgenommen, sondern ebenfalls polarisierend bewertet. Was ist wichtig? Was ist unwichtig? Was ist schön oder hässlich? Ein dualistisches Weltbild, welches ständig unbemerkt aktiv ist.

Es ist schwer, einen Einfluss auf unsere Bewertungen zu gewinnen, denn die meisten beruhen auf dem, was wir unbewusst aufgenommen und erlernt haben. In unserer Gesellschaft gibt es dabei eine sogenannte „Norm“, die automatisch übernommen wurde und an die wir uns halten. Aber warum übernehmen wir diese Norm?

Beim Aufwachsen erfahren wir, dass eine Anpassung an diese Norm es uns einfacher macht, uns zugehörig zu fühlen. Sie ermöglicht es uns, auf der gleichen Seite zu stehen. Es scheint als ein Weg, die Einsamkeit, vor der wir solche Angst haben, zu umgehen.

Denke zurück an meine Geschichte.

Wenn du dir nun vorstellst, dass dir in der Stadt eine junge Frau mit zwei Schildern begegnet – was würde passieren? Erst einmal wärst du befremdet. Ihr Verhalten entspricht nicht der Norm. Dann würdest du sie bewerten. Und je nachdem, ob du die Sätze auf den Schildern lesen würdest und sie deiner Meinung entsprächen, fiele deine Bewertung mehr oder weniger positiv aus. Falls die Sätze selbst auch noch von der Norm abweichen, träfe wahrscheinlich letzteres zu. Eventuell würdest du dich vielleicht auch angegriffen fühlen, die öffentliche Meinungsbekundung persönlich nehmen und die junge Frau von deiner eigenen Meinung unterrichten wollen.

All diese Dinge sind mir passiert. Ich habe schräge und abschätzige Blicke zugeworfen bekommen, jedoch auch freundliche, zustimmende und lächelnde. Ich wurde als „mutig“ bezeichnet, bekam aber auch unschöne Kommentare. Ich wurde von allen Seiten bewertet.

Also, warum machte ich mich quasi selbst zu einer potenziellen Zielscheibe und gefährdete mein Bedürfnis nach Verbundenheit, nur um meine Meinung kund zu tun? Warum wagte ich es, die sichere, gemeinsame Seite zu verlassen?

Bedürfnis nach Freiheit

Hier komme ich nun zu dem zweiten Grundbedürfnis des Menschen, dem Bedürfnis nach autonomem und freiem Wachstum. Dazu gehört die Freiheit, sich mitteilen zu dürfen und gehört zu werden. Zu sich selbst und seiner inneren Stimme stehen zu können. Gerald Hüther bezeichnet dies als sich seiner Würde bewusst zu sein und danach zu leben.

Aufgrund unserer Wertegesellschaft überwiegt die Angst, die Verbundenheit zu verlieren und ein Außenseiter zu werden. Dabei setzen wir jedoch auf die Anerkennung anderer und missverstehen grundsätzlich, dass Anerkennung nicht Verbundenheit ist.

Wir sind alle Individuen – mit unseren eigenen Ideen, Haltungen und Meinungen. Mit manchen Menschen werden wir in vieler Hinsicht Übereinstimmung finden, mit anderen nicht. Und doch beruht Verbundenheit nicht auf diesen Oberflächlichkeiten. Verbundenheit kann mit jedem Menschen empfunden werden, egal ob Meinungen übereinstimmen oder nicht. Verbundenheit geht mit wahrer Offenheit und Zuhören gegenüber jedem Menschen und sich selbst einher. Daniele Ganser spricht von der „Menschheitsfamilie“, und wenn ich mir die Menschheit als eine Familie vorstelle, fühle ich mich mit allen Menschen gleich mehr verbunden.

Also traut euch!

Teilt euch mit, geht raus und zeigt euch. Ich will nicht in einer Welt leben, in der mein Bedürfnis nach Autonomie und Freiheit irgendwann einmal komplett von der gesellschaftlichen Priorität nach Anerkennung untergraben wird. Ich gehe für eine angstfreie Zukunft, in der wir uns gegenseitig unterstützen können, beide Bedürfnisse zu erfüllen und zu teilen.

Da unser Bedürfnis nach Autonomie im Moment immer weiter eingeschränkt wird, setze ich mich mit meinen Schildern für solch eine Zukunft in Freiheit, Selbstbestimmung und Verbundenheit ein. Ich habe erfahren, dass ich mich dadurch von meiner falschen Angst um Verlust von Anerkennung befreien kann und mit allen Menschen in Verbindung gehe.

Treffen wir uns mit unseren Schildern?

Annika Mühlich

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