Wie oft habe ich in meinem Tempelhofleben schon gedacht: „Ein historischer Moment“. Im Dezember letzten Jahres war wieder so einer. Wir hatten 7 verschiedene Kreise und Gremien neu zu besetzen oder durch neue Mitglieder zu ergänzen. Es war das erste Mal, dass wir alle Wahlen zusammengelegt hatten – im Bewusstsein, dass alles mit allem zusammenhängt. Es war keine Wahl im üblichen Sinn. Wir haben in mehreren Schritten erspürt, ob Mensch und Aufgabe zusammenpassen. Etwa 35 Genossen und Menschen in der Annäherung waren zu diesem Wahl-Dorfplenum gekommen.
Was haben wir gemacht?
Im ersten Schritt gab es einen Austausch in Zweiergruppen zur Frage: Was ist für mich in 2019 dran? Ruft mich eine Aufgabe in der Gemeinschaft, wofür habe ich Energie? Die beiden Tempelhofer Prozessbegleiterinnen hatten zuvor klar gemacht, dass es durchaus der Gemeinschaft dient, wenn die persönliche Situation in naher Zukunft eher Selbstfürsorge braucht. Im zweiten Schritt hatten wir große Blätter mit allen 7 Aufgabenkreisen im Raum ausgelegt und dazu eingeladen, mit diesen Aufgaben in Resonanz zu gehen: Wenn ich mich zu der Aufgabe stelle, was fühle ich da? Anziehung, Widerstand, Neugier, kribbelnde Energie, Müdigkeit – oder gar nichts?.
Danach erster Austausch über diese Erfahrungen in der großen Runde. Im dritten Schritt wurden im Raum zu jeder der 7 Aufgaben kleine Sitzkreise gebildet mit der Einladung, dass sich jene dort hinsetzen, die sich von einer Aufgabe angezogen fühlen. Dann gingen wir Kreis für Kreis durch: Wer einen Platz eingenommen hatte, sprach davon, warum sie/er sich dort sieht und aus der gesamten Runde kamen Fragen oder Rückmeldungen an diese Personen. Waren noch Plätze frei, wurden Menschen eingeladen, sich einmal versuchsweise dort hin zu setzen und zu spüren, wie es ihnen an diesem Platz, in Verbindung mit jenen, die da auch noch saßen, ergeht. Oder jemand wurde gebeten, probehalber den Platz wieder frei zu machen. So war es ein dynamisches Hin und Her von Ausprobieren, Spüren, Austausch, Feedback, bis sich bei allen Beteiligten ein Gefühl von „Das stimmt jetzt so“ eingestellt hatte. Kreis für Kreis wurde so besetzt. En passent schafften wir in diesem Procedere einen Kreis ab, weil sich im Prozess zeigte, dass er überflüssig ist.
Dann wurde es heikel
Relativ spät kamen wir zur Besetzung des Vorstandes der Genossenschaft. Es war uns von vornherein klar, dass dies der heikelste Punkt unseres Findungsmarathons sein würde. Lange saß niemand im Vorstands-Kissen-Kreis, dann eine Person, die viel Fragen und Feedback erhielt, aber kein eindeutiges Ja – bis sie den Kreis wieder verließ. Einzelne wurden gefragt, ob sie sich in der Vorstandsrolle sehen könnten, hatten aber gute Gründe für ihr Nein… – kurz, an diesem Tag kamen wir zu keinem neuen eG-Vorstand. Es war anstrengend, das auszuhalten, aber aus unerfindlichen Gründen war doch Gelassenheit im Raum. Und dies trotz Zeitdruck. 4 Tage später war die Generalversammlung der Genossenschaft terminiert, spätestens da brauchten wir einen neuen Vorstand und die Nachwahl für den Aufsichtsrat.
Alles fällt an seinen Platz
Und siehe da: In den Tagen danach hat es in einigen Menschen weitergearbeitet. Sie haben zusammen eine Lösung gefunden, die so organisch war, dass wir uns gefragt haben: Wieso ist uns dies nicht schon viel früher eingefallen?
Das war er, der „historischen Moment“: Ohne Druck, ohne Überreden, ohne sich einer Pflicht beugen, weil man es nicht aushält, dass Posten nicht besetzt sind, war am Ende alles an seinen richtigen Platz gefallen.
Weiter geht es in der Winterintensivzeit
In der Intensivzeit arbeiten wir kaum zu Themen, sondern weben überwiegend die Verbindungsfäden neu, schaffen ein Netz des Vertrauens, das uns – hoffentlich – durch das Jahr trägt. Und jedesmal erfahren wir in diesen Intensivtagen mit bis zu 70 Menschen, wie wir alle unbemerkt in der Zwischenzeit gewachsen sind, als Gesamtgruppe gereift. Diesmal wurde ein solcher Sprung bei der Besetzung des Dorfrates sichtbar. Der Dorfrat ist als Gremium neu (seine Einführung hatten wir nach längerer Vorbereitung im Dezember beschlossen). Er soll aus einem Gesamtblick der gemeinsamen Bewusstseinsbildung dienen, Anstöße geben, Initiativen koordinieren und nicht wie eine Regierung handeln. 5 bis 7 Mitglieder soll er haben.
Findung des Dorfrates
Naheliegend wäre gewesen, eine repräsentative (Altersgruppen, Arbeitsbereiche, Interessensgruppen…) und auch geschlechterparitätische Zusammensetzung anzustreben. Unser Weg war anders. Zunächst wurde die Vielfalt unseres Gemeinwesens mit Stichworten wie Schuldorf, Labor der Zukunft, Nachhaltige Landwirtschaft, Persönliches Wachstum… in den Raum geholt und in Vierergruppen zusammengetragen, was angesichts dieser Vielfalt von dem zukünftigen Dorfrat gewollt wird. Danach konnten alle erspüren, welche Personen sie dafür geeignet halten. In der Mitte lagen anfangs 8 Sitzkissen für den Dorfrat, die nach anfänglichem Zögern rasch besetzt waren. Überwiegend wurden Menschen vorgeschlagen, manche schlugen sich selbst vor, in dem sie einen Platz einnahmen. Plötzlich saßen 12 Personen in der Mitte, womit wohl niemand gerechnet hatte. Was dann begann, war ein ruhiger, aber intensiver, berührender Prozess voller Würde, in dem Einzelne für sich prüfen konnten, ob sie am „richtigen“ Platz sind. Es war, als offenbare sich die Aufgabe „Dorfrat“ jenen, die im Innenkreis saßen und sie konnten innerlich abprüfen, ob sie der Aufgabe wirklich dienlich sind. Es schien, als hätte die erste Person, die erkannte, dass sie an anderer Stelle wirksamer sein kann und in Demut ihren Platz frei machte, anderen den Weg geebnet, den Platz loszulassen, ohne fürchten zu müssen, das Gesicht zu verlieren. Besonders, weil die kollektive Achtsamkeit Einzelnen ermöglichte, sich mit ihrer Betroffenheit zu zeigen, mit ihrem Bedauern und dann auch mit ihrem Einverständnis. Jede Veränderung im Innenkreis wurde von seinen Mitgliedern reflektiert und gab Anstoß für neue Bewegungen. Auch schaltete sich der Außenkreis mit seiner Sicht ein, vor allem die Anwesenheit einer Person wurde hinterfragt. Durch probeweises Herausgehen wurde dieser Person deutlich, dass sie in den Dorfrat gehört. Ihr Herzklopfen auf dem Platz draußen war für sie ein deutliches Zeichen.
Als hätte es anders nicht sein können
Am Ende dieses kollektiven, achtsamen „Aufstellungs“-Prozesses hatte sich ein Kreis von 7 Menschen buchstäblich finden lassen und konnte den befreienden Applaus aller entgegennehmen: 4 Frauen, 3 Männer, dabei ein Aufsichtsrat-Mitglied, ein Vereinsvorstand, ein Genossenschaftsvorstand, nicht bewusst angezielt, aber im Vorfeld für durchaus sinnvoll gehalten. All dies geschah unter den Augen und mit den Herzen aller, jeder Schritt war transparent, jeder konnte ihn für sich überprüfen, niemand wollte/musste etwas durchsetzen, niemand hat jemand anderem das Vertrauen entzogen, Es gab offenbar ein Grundvertrauen zwischen allen, dass der Prozess selber zeigen wird, welche Zusammensetzung die passende sein wird. So dauerte es mit Unterbrechung durch die Mittagspause bestimmt 2 ½ Stunden und war dennoch nicht angestrengt oder ungeduldig. Eher leicht wirkte es – offenbar so, als hätte es nicht anders sein können. Beim einen oder anderen blieb ein Staunen, wie es geschehen konnte, dass keine der Personen, von denen er anfangs gedacht hatte, dass sie unbedingt dem Dorfrat angehören sollten, am Ende dabei waren.
Wer oder was hat hier die Wahl getroffen?
MarieLuise Stiefel, Thomas Waldhubel