Die Gemeinschaft als neue Heimat

Die Gemeinschaft als neue Heimat- Jugendhilfe am Tempelhof

Dieses Interview mit Rüdiger Bachmann, der seit 2012 zusammen mit seiner Frau Claudia Borheck (Dipl. Soz.-Päd) und ihren jetzt noch zwei Kindern am Tempelhof lebt, möchte einen Einblick geben in den turbulenten, spannenden Alltag der Jugendhilfe. Beide arbeiten seit 2009 in diesem Bereich und konnten zuvor bei Aufbau und Durchführung eines Waldkindergartens und einer Freien Schule wertvolle pädagogische Erfahrungen sammeln. Am Tempelhof sind sie für drei Jugendliche aus schwierigen Lebenssituationen verantwortlich. Die Belegung erfolgt durch den Träger Wellenbrecher e.V. in NRW, im Auftrag der fallführenden Jugendämter. Als Koordinator-Vorort ist Thomas Waldhubel, Dipl. Psychologe und Supervisor, beauftragt.

Stefanie: Hallo Rüdiger, seit Jahren betreut ihr und kümmert euch um Jugendliche mit erschwerten Entwicklungsbedingungen – wie kommen sie zu euch?

Rüdiger: Das Jugendamt fragt mit Hilfe eines Kompetenzrasters mögliche Betreuer an, beurteilt sie, und der finanziell und inhaltlich verantwortliche Jugendhilfeträger vermittelt und betreut anschließend die Jugendlichen bei den neu gewonnenen „Pflegeeltern“. Zu mir kamen z. B. die Jugendlichen, die ohne jeglichen weiteren therapeutischen Ansatz waren. Die Verzweiflung war groß und man wusste nicht weiter. Da habe ich gesagt, dass es doch einen Versuch mit mir wert wäre. Das hat geklappt, wir betreuen heute drei  Jugendliche und haben alle sechs Monate erfolgreiche Eltern-Betreuer-Jugendamt-Gespräche.

Stefanie: Wie würdest du den Zustand eurer Jugendlichen beschreiben?

Rüdiger: Die wirklich schlimmen Fälle kommen nach 2-3 Monaten aus der Psychiatrie und keiner kann sie mehr vermitteln. Sie werden oft weiter auffällig und straffällig, landen in Wohngruppen und nicht selten im Knast. Eine heutige Strategie ist es, sie auch in die ferne Mongolei zu geben, wo einfach nichts mehr ist, da können sie, anders als hier in Deutschland, nichts mehr anstellen. Hier kannst du jederzeit abhauen, in den Zug steigen und wegfahren.

Viele Jugendliche sind abgestempelt und werden medikamentös manipuliert und behandelt. Sie befinden sich in einer Grundanspannung, weil alles, was sie tun und taten, nicht OK war und ist. Die Jugendlichen haben eine Grundsensibilität gegenüber erwachsenen Tricks, die sie „nur wieder zu etwas bringen wollen“. Es braucht lange, bis sie kapieren, dass wir hier so nicht arbeiten, dass sie vertrauen können. Sie vertrauen niemandem mehr. Bei solchen Fällen heißt es vor allem Loslassen und die tiefe Empathie im Wesen des Kindes herauszufinden.

Aktuell leben drei junge Menschen mit uns. Zwei Jungs, beide 19 Jahre alt. Einer der beiden lebt seit über drei Jahren bei uns, der andere seit über zwei Jahren. Das Mädchen, gerade 14jährig, ist vor knapp vier Monaten zu uns gekommen und befindet sich noch im Ankommensprozess. Sie besucht seit Mitte Januar unsere Schule. Einer der Jungen macht gerade ein Praktikum im Tierbereich unserer Landwirtschaft mit der Ausrichtung, hier und in diesem Bereich im Herbst eine Ausbildung zu beginnen. Der andere besucht unsere Schule und ist seit Kurzem einen Tag pro Woche „Schnupperpraktikant“ an der Seite eines unserer Landwirte.

Alle drei müssen sich tägliche üben in der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse. Sie müssen lernen, für sich selber zu sorgen mit dem Ziel, selbstständig zu werden, so dass sie irgendwann auf eigenen Beinen stehen, also ein selbstbestimmtes, sozusagen „gutes“ Leben führen können. Dies ist für alle Beteiligten, die Jugendlichen wie für uns, eine herausfordernde Aufgabe.

Stefanie: Arbeitest du und ihr am Tempelhof alleine oder habt Ihr ein Team aus Menschen mit der gleichen Aufgabe?

Rüdiger: Der Tempelhof ist ein super Feld für diese Arbeit. Dennoch sind wir auf allen Gebieten noch Pioniere und müssen unsere Grundstrukturen erarbeiten. So steckt auch das Thema Jugendarbeit am Platz noch in den Kinderschuhen, es gibt noch kein sattes Gefühl eine soliden Gefüges oder der Fürsorge, dass alle Kinder und zu jeder Zeit in der Gemeinschaft getragen werden. Es gilt in der Jugendarbeit, klare Aussagen zu treffen. Ich erlebe es nicht selten, dass gestandene Erwachsene in Bezug auf diese Jugendlichen oft unsicher sind. Auf längere Sicht wird aber ein entspannterer und selbstverständlicherer Raum diesbezüglich entstehen und die Chance eintreten, dass mehr Menschen an dieser großartigen Aufgabe beteiligt sein werden – sei es ehrenamtlich, flexibel, spontan im Alltag oder durch kleine und große Jobs. Und dieses Zusammentreffen mit unterschiedlichen Menschen tut schwierigen Kindern gut, wenn sie weitere persönliche Anker finden.

Stefanie: Beschreibe uns bitte, wie eure Betreuung und Arbeit aussieht.

Rüdiger: Wir sind für die Jugendlichen rund um die Uhr da, 24 h am Tag, 7 Tage in der Woche, 365 Tage im Jahr. Du kannst dir die Situation ähnlich die einer Mutter mit Kleinkind vorstellen – es gibt keine Pause. Der Traum vom Urlaub bleibt, es  gibt keinen Dienst nach Vorschrift.

Hier am Tempelhof leben wir in Wohnungen, jeder Jugendliche hat sein eigenes Zimmer, wir teilen uns Wohn-und Esszimmer, Badezimmer, etc. Meine Zimmertüre bleibt nachts grundsätzlich offen, damit keiner stiften geht und ich entsprechend reagieren kann.

Normalerweise sieht die Betreuungssituation das 1:1-Verhältnis vor, also für jeden Jugendlichen einen Betreuer. Wir wollen aber keine Isolation. In der Gemeinschaft haben wir die komfortable Situation der altersgemischten Schule und den Kindergarten vor Ort, weit draußen auf dem Land. Es kann eine innere Heimat entstehen. Hier fragt keiner, wer in welche Klasse geht oder wie alt er oder sie ist, das spielt keine Rolle. Es darf jede und jeder sein, wie er oder sie ist. Wir haben hier Gemeinschaftsstrukturen und kein Ghetto. So kann bei den Jugendlichen das Gefühl entstehen, NICHT in einer Einrichtung zu sein.

Stefanie: Formuliert ihr Ziele für euer gemeinsames Leben für und mit den Jugendlichen?

Rüdiger: Ja, wir machen Zielarbeit. Am Anfang heißt das zum Beispiel: „Finde deine Zahnbürste!“ und nicht: Zähne putzen! Die Jugendlichen haben immer Druck, etwas gerecht zu werden. Das sieht so aus, dass sie die elektrische Zahnbürste auf das Waschbecken stellen, damit es möglichst laut brummt und sie endlich Zeit haben, 5 Minuten Comics zu lesen. Meine Aufgabe ist es, ihnen verständlich zu machen, dass sie es bereuen werden, wenn sie sich nicht pflegen. Aber ich werde sie nicht dazu zwingen. Ich bin dafür da, dass sie lernen, sie putzen zu können und den Sachverhalt zu verstehen.

Meine Arbeit ist sehr basal und erwartungsfrei. Ich arbeite ohne Manipulation und vermeide z. B. Übergriffiges in der Sprache. Es ist oberstes Ziel, Vertrauen aufzubauen. Und wenn dieses nach vielen zähen, teilweise auch frustrierenden Monaten gelungen sein könnte, sprechen wir auch ganz konkrete Ziele an, wie z. B. aktuell den Traktorführerschein.

Stefanie: Unterstützt die Gemeinschaft die individuellen (Heilungs-)Prozesse bei den Jugendlichen?

Rüdiger: Ja, Es sind viele Menschen an der Begleitung beteiligt und es gibt viel Empathie dafür in der Gemeinschaft. Allein unser Bemühen, in einer anderen Art und Weise, achtsam und offen miteinander zu kommunizieren, verändert das Feld. Die Jugendlichen erfahren, dass sie anders wahrgenommen und behandelt werden, nämlich freundlich, respektvoll, und ernstgenommen. Wir bemühen uns um den anderen, im Besonderen um unsere Jugendlichen.

Unterstützt werden diese sozialen Prozesse natürlich durch unsere relative Abgeschiedenheit auf dem Land, die Natur, die Infrastruktur mit Schule, Turnhalle, Töpferei, Küche, etc. Gemeinschaftsdienste zum Beispiel eignen sich hervorragend zur eigenen Erprobung, die auch Anerkennung erhält.

Stefanie: Haben die Jugendlichen auch Schwierigkeiten im Dorf?

Rüdiger: Ja, beispielsweise mit Zigaretten oder Zucker. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich damit verbringe, die Jugendlichen davon abzuhalten, die halbverbrauchten Kippen der Dorfbewohner zu sammeln und zu rauchen. Auch Zucker für den Kaffee oder Honig in der Kantine ist ein Thema. Die Eigenverantwortung, mit diesen Dingen adäquat umzugehen, muss da erst entwickelt werden. Grenzen zu respektieren gehört da auch dazu, es sind ja alle so nett und offen, da ist die Schwelle zum Respektlosen schnell überschritten. Es nützt den Jugendlichen auch nichts, wenn wir in Mitleid zerfließen und unser Helfersyndrom ausleben.

Wir nehmen aus diesem Grund die Mahlzeiten im geschützten, überschaubaren Rahmen zu Hause ein. Da entstehen weniger Missverständnisse. Und wir sehen mit den Jugendlichen keine Sci-Fi- oder Fantasy-Filme an, sondern reale Filme mit Menschen und mit dem, was uns umgibt, uns ausmacht.

Stefanie: Gibt es sie, die größten Herausforderungen, denen du dich bei eurer Arbeit stellen musst?

Rüdiger: Das ist der Versuch, Mensch zu sein ohne Rolle (seufzt), ein hehres Ziel. Wirklich sein Herz öffnen zu können oder ehrlich zuhören; die Aufgabe nicht aus einer Profession heraus zu gestalten und etwas krampfhaft aufrecht zu erhalten. Versagen anerkennen können. Und stets ein inneres Verständnis zu bewahren, dass da ein absolut tief gesundes Wesen da ist, das sich alle Schichten nach und nach erarbeiten muss. Außerdem müssen die Jugendlichen lernen, mit der Wahrheit zu leben, ich vermittele Klarheit und Fakten, gehe mit ihnen „in die Kurve“, mache ihnen nichts vor, um sie zu entlasten. Tiefe Ehrlichkeit eben.

Wir können Werte sowieso nicht vermitteln, sie sind das Ergebnis des Prozesses. Wenn die Jugendlichen seelisch satt sind, dann essen sie auch. Sie spüren dann, was wir meinen, wenn wir z. B. um Höflichkeit bitten. Es macht nur Sinn, Werte zu hegen und zu pflegen, wenn wir diese uns gegenüber auch wahrnehmen.

Ich danke dir für das Gespräch und den ausführlichen Einblick in eure Arbeit und euren Lebensalltag.

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