Wir LängerGelebtHabenden – unter dieser Überschrift hatten wir an Pfingsten zu einer Werkstatt eingeladen. Werkstätten sind unser Format für Gesprächs-, Entwicklungs- und Vernetzungsräume für Menschen, die selbst die Expertinnen und Experten für das sind, was sie bewegt. In diesem Jahr waren es Menschen zwischen knapp 55 bis 80 Jahre und das uns gemeinsam bewegende Thema war die bewusste Gestaltung der vor uns liegenden Lebenszeit.
Wir waren selber überrascht, auf welche Resonanz dieses Angebot getroffen war. Mit uns vier Begleitenden waren wir fast 50 Menschen, mehrheitlich in den 70ern. Freitagabend einander noch recht fremd und das große Rund, in dem wir saßen, noch unbehaglich, tanzten wir Sonntagabend ausgelassen, nahezu wild, und die Bilder, die wir selbst in uns trugen, wie ältere Menschen so sind (natürlich die Anderen 😊), hatten sich aufgelöst, hinein in ein Staunen über die vielfältige Lebendigkeit, die da offensichtlich noch in uns wohnt.
„Dass wir in so kurzer Zeit uns schon ein wenig von Innen her kennen, das kommt mir wie ein Wunder vor“, so hieß es schon am ersten Morgen. Es sind unsere gemeinschafts-erprobten Übungen, die beitragen, dass Menschen schnell in eine wirkliche Begegnung kommen. Und das Gemeinschaftsfeld hier am Ort, an dem nun seit langer Zeit gewebt wird.
„LängerGelebtHabend“
Dieses Wort haben junge Erwachsene geprägt, die für eine Orientierungszeit am Tempelhof waren. Es ist ein Wort für Ältere, das nicht mit dem gesellschaftlichen Altersbild belegt ist, sondern neutral die Fülle von Lebenserfahrung zum Ausdruck bringt, die mit der Zahl an Lebensjahren einhergeht. Ein Wort, das Älteren jenseits gängiger Bilder Freiheiten im Lebensausdruck zugesteht, die ihrem inneren Lebensgefühl, ihrer Wirkkraft, ihrem bis in den Sterbeprozess hinein gegebenen Entwicklungs- und Erkenntnispotential entsprechen. Es irritiert erst mal – was ja nicht schlecht ist. Zumindest dann, wenn Irritation einen Spalt im festgefügten Denken erzeugt, durch den neue Impulse einströmen können.
Die Werkstatt
Neben Kleingruppen, Männer- und Frauenrunden, Spaziergängen zu zweit, Workshops mit unterschiedlichen Zugängen zu den tiefer schlummernden Impulsen und manch überraschenden Erfahrungen („So nah und zufrieden mit meiner Kreativität habe ich mich erstmalig gefühlt“, Ulrich, 80 Jahre), einem kulturellen Abend und immer wieder Treffen in der großen Runde hatten wir eine
Sequenz mit einer Gruppe von 8 jungen Menschen, die auf dem Areal des Tempelhofs ihr eigenes Bildungsprojekt machen. Sie nennen sich, in Abwandlung zu Silicon Valley, Flow Valley und sie arbeiten an Wegen der selbstbestimmten Bildung („Bildungsbrief“). Diese Begegnung der Generationen war besonders, eine Begegnung auf Augenhöhe, irgendwie aber auch zunächst etwas befangen. Von den jungen Leuten hörten wir, noch nie hätten ihnen so viele Ältere so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Mir selber ist klar geworden, dass wir aus der Großelterngeneration und diese jungen Leute aus der Enkelgeneration etwas Gemeinsames teilen: Die Freiheit, unser Leben aus uns heraus zu gestalten, selbstbestimmt und (noch oder jetzt) ohne familiäre oder berufliche Pflichten. Das macht uns im Grunde zu natürlichen Verbündeten in einer Welt, in der es vor allem um Anpassung an Vorgegebenes geht. Das Treffen war fruchtbar – eine Teilnehmerin hat den Impuls „Bildungsbrief“ aufgegriffen und forscht nun mit einigen Weiteren aus der Pfingstwerkstatt daran, wie diese Idee auf die Generation der Älteren anzuwenden ist. Und da Flow Valley unter widrigen materiellen Bedingungen arbeitet, flossen einige Euros von den Älteren zu den Jüngeren (wer sie auch unterstützen möchte, kann dies hier tun: https://gofund.me/f6f606d4 ).
Im Rückblick
Stellvertretend für viele wunderbare Rückmeldungen zu dieser ersten Werkstatt für LängerGelebtHabende steht zum Abschluss der Brief von Patrizia:
„Liebe Malu, liebe Agnes, lieber Peter, liebe Christel,
was soll ich sagen. Ich bin beseelt, beglückt, inspiriert und vor allem ziemlich aufrecht aus diesen Tagen der Pfingstwerkstatt von dannen gezogen. Ich war erstaunt, wie schnell, bei so vielen TeilnehmerInnen, echte Tiefe entsteht, wie weich ich innerlich geworden bin. Ich habe gebadet in dieser, sich sehr frei anfühlenden, Energie.
Diese Tage war das Alter für mich gar kein Thema, mehr meine/ unser aller Lebendigkeit, mein Interesse und meine Neugier auf das Leben. Die vielen verschiedenen Lebensentwürfe der Menschen haben mich sehr inspiriert und mir das Gefühl gegeben, eingebettet zu sein in ein Größeres Ganzes.
Ich war überrascht, wie meine Beinchen einfach tanzten als wäre ich 30 Jahre jünger, wie mich die Jugend und der Austausch berührten und wie ermutigt ich in meinen Alltag zurückgekehrt bin.
Und ich hatte es ja schon bei der Abschlussrunde formuliert. So viele Spiegel zu haben ist ein wahres Geschenk und das in einem absolut geschützten Rahmen an einem Ort, den ihr, schon über so viele Jahre, mit eurer Energie erfüllt und nährt.
Ich bin zutiefst dankbar, wieder zu verborgenen Schätzen IN MIR gefunden zu haben, die ich fast schon verloren glaubte. Und ich kann’s kaum erwarten wiederzukommen.
Habt Dank ihr wunderbaren engagierten Menschen, dass ihr eure Anliegen mit uns teilt und uns ein Stück des Weges begleiten mögt. AHO“
Und weiter geht es!
Wir sind selber überrascht und dankbar, was da im Miteinander von Allen entstanden ist.
Daher machen wir weiter. Vom 21.- 24. November findet die nächste derartige Veranstaltung statt. Unter dem Link https://booking.seminardesk.de/de/schloss-tempelhof/0445aa3628e44035968e33fcfde0f8d3/wir-langer-gelebt-habende-november-werkstatt findet ihr die näheren Informationen.
MarieLuise Stiefel
Nachtrag: „Zufällig“ ist mir gerade ein Artikel über „Longevity-Medizin“ in die Hände gefallen. Er liest sich wie eine Bestätigung unseres Ansatzes, denn er betont die Bedeutung des Bewusstseins für den Alterungsprozess: „Betrachten wir das Altern lediglich als einen Prozess des kontinuierlichen Verlustes, gepaart mir dem Gefühl, irgendwann nicht mehr gebraucht zu werden? Oder sehen wir ihn als natürlichen, wundervollen Reifungsprozess?“ Es werden mehrere Studien zitiert, die die Bedeutung geistiger Faktoren belegen, u.a. eine der Universitätsmedizin Greifswald aus dem Jahr 2022, die zeigt, „dass Menschen im Schnitt sogar 13 Jahre länger leben, wenn sie das Altern als einen natürlichen Entwicklungsprozess sehen und mit dem Älterwerden persönliche Ziele und Pläne verbinden“ (Andrea Freund, Longevity-Medizin. Das Geheimnis eines langen, gesunden Lebens? In: natur&heilen, Juni 6/2024, S. 13 ff).