13 Monate Verordnungspolitik

So haben wir sie uns nicht vorgestellt – unsere zweite Pionierzeit, mit der wir Anfang 2020 in das zweite Jahrzehnt unserer Gemeinschaft aufgebrochen waren. Seit 13 Monaten suchen wir immer wieder auf das Neue, mit den uns von außen verordneten, mit Corona begründeten Bedingungen kreativ umzugehen, unseren Werten treu zu bleiben und uns offen zu halten für Menschen, die sich nach Austausch und Gemeinschaft sehnen. Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstorganisation, im Wissen um eine grundlegende Verbundenheit und darauf gegründetem Vertrauen– darauf basiert unser Gemeinschaftsverständnis. Wir sind nicht die kindlichen Erwachsenen, die Verantwortung für Gesundheit an Leib und Seele an Mama Merkel und Papa Kretschmann abgeben. Wir sind absolut die Falschen, wenn die Regierung uns Verantwortung für die Durchsetzung von Verordnungen übertragen will, deren Sinn uns nicht einleuchtet. Wir lassen die Verantwortung für das persönliche Leben im Kontext der Verordnungen dem jeweiligen „Endadressaten“, im Fall der Schule den Eltern (soweit sie noch stattfinden kann), im Fall des Seminarbetriebes den Seminarteilnehmer:innen (in den Zeiten, in denen Seminare grundsätzlich möglich sind), im Fall von Gemeinschaftsbesuchern (soweit noch möglich) den Besucher:innen. Und wir respektieren jeden individuellen Umgang damit.

Uns hat dieser Prozess politischer gemacht

Bewusster als zuvor begreifen wir die politische Dimension unserer Existenz als Gemeinschaft. Wir leben schon vielfach den materiell bescheidenen Lebensstil, der in der westlichen Welt so dringend angesagt ist, um den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Nicht als Verzicht, sondern weil wir im Miteinander in der Gemeinschaft und in dem immensen Potentialraum, aus dem wir schöpfen können, eine Lebensqualität entwickeln, die Herz, Leib und Seele wirklich nährt. Dies tun wir aus Einsicht, in Freiheit und Verbundenheit. Das ist für uns der Stoff, aus dem eine lebenswerte, lebendige, menschenwürdige Zukunft wächst.

Wir leben in dringlichen Zeiten – und haben erkannt, dass ansteht, uns noch entschiedener in unsere Werte hinein zu entwickeln. Als Modell, das eine Alternative bietet zu der gesellschaftlichen Entwicklung einer durchdigitalisierten, die Menschen voneinander isolierenden, angstdominierten Welt von unmündig gehaltenen Bürger:innen.

Unsere Vielfalt erweist sich in diesen Zeiten als Schatz.

Da ist die Vielfalt unterschiedlicher Haltungen und Verantwortlichkeiten in dem Geschehen. Einer recherchiert unermüdlich und versorgt uns mit Zahlen und kommentierenden Berichten aus der einen Richtung, eine hält andere Zahlen dagegen – und wenn etwas dadurch für alle sichtbar wird, ist es der Fakt, dass Statistik eine komplexe Angelegenheit ist, keineswegs so eindeutig, wie jeder und jede denkt, wenn er oder sie Zahlen findet, die die eigene Sichtweise bestätigen. Dann gibt es Dritte, die sagen: „Lass mich in Ruhe mit den Zahlen, es geht um etwas ganz anderes. Es geht um ….“. Wiederum andere haben über Familienleben, Paarbeziehung, Fulltimejob weder Zeit noch Nerv, sich ständig mit dem Corona-Thema zu beschäftigen, ihre inneren Kapazitäten sind erschöpft und sie sind froh, dass andere sich kümmern. Manche sagen „Ich überlass mich meinem Gefühl, meiner Intuition.“ Das wiederum bringt die eher rationalen Gemüter in Wallung. Und dann gibt es jene, die als Funktionsträger in der Schule, im Seminarhaus und unseren anderen Betrieben eben nicht nur für sich Verantwortung tragen, sondern in einem viel komplexeren Spannungsfeld stehen und mit „Ich halt mich an mein Gefühl“ nicht so viel anfangen können.

Kurz gesagt: Wir reiben uns.

Wir reiben uns nicht nur an den Verordnungen, sondern auch aneinander. Im WIR-Prozess hat eine Gruppe in dieser Phase die Wahl, wieder ins Pseudogemeinschaftliche zurückzufallen oder weiter und tiefer zu gehen. Ist es die Dringlichkeit der Lage oder das in 10 Jahren des Miteinander gewachsene Vertrauen – jedenfalls reiben wir uns seit Beginn der Coronakrise immer mehr in unsere je individuellen Wahrhaftigkeiten hinein, stehen dafür hin, auch lautstark und vehement,  und werden dadurch als Gemeinschaft stärker. Wir lernen uns selbst und die anderen noch besser kennen. Oft werden wir uns ja unserer inneren Haltungen und Unterschiede erst bewusst, wenn ein Ärger über die Aussagen eines anderen entflammt. Verletzungen entstehen, sobald es nicht mehr nur um die Unterschiede der Meinungen geht, sondern mit der anderen Meinung der ganze Mensch angegriffen wird. Ja, auch das geschieht manchmal. Bisher ist es uns immer gelungen, auch wenn sich auf der Ebene von Haltungen und Einschätzungen manchmal unüberbrückbar scheinende Unterschiede zeigen, auf der menschlichen Ebene in Beziehung zu bleiben. Immer wieder verfällt jemand in Vorwürfe oder ein Muster von Rechthaben wollen, und lässt es auch wieder fallen, manchmal mit mehr oder weniger sanfter Unterstützung seiner freundlich gesonnenen Spiegel aus der Gemeinschaft. Und wenn jemand von uns zu der Einschätzung kommt, er oder sie brauche Mut, seine Minderheitenmeinung auszusprechen, dann zeigt das Barometer einen Gruppenbewusstseinsstand an, der uns alle betroffen macht und innehalten lässt.

Dieses Ringen ist so kostbar, so menschlich und so unverzichtbar in einer derart komplexen und dynamischen gesellschaftlichen Umbruchsituation! Umso größer mein Unverständnis und Unmut, dass dies auf der Ebene der politischen Machtausübenden und der involvierten Wissenschaft so gut wie gar nicht gewollt zu sein scheint.

Egal, welche Dynamik unsere inneren Prozesse entfalten – fast immer entsteht irgendwann bei irgendwem ein Impuls, der uns alle weiterbringt oder aber hilft, Ungelöstes oder Ungewissheit noch eine Weile zu halten. Wir sind nie alle gleichzeitig im selben Gemütszustand, auch das ist Vielfalt. Angst wird kleiner in Gesellschaft des Mutes von Anderen, verzweifelte Empörung legt sich in Gegenwart der inneren Friedfertigkeit eines Gegenübers, erlebte Ohnmacht entspannt sich, wenn sie auf gelassenen Herzensmut trifft. Ein großartiges Lernfeld!

Vielfalt der Betriebe und Professionalitäten

Wie in der Natur erweist sich die Diversität unserer Betriebe, Rechtsformen und Professionalitäten als überaus nützlich und überlebensförderlich. Die Anzahl der Optionen, die wir aus den Verordnungen herauslesen, ist dadurch größer. Wir können teilweise Ressourcen verlagern, wenn sie aufgrund des Lockdowns an einer Stelle nicht mehr gebraucht werden. Zum Beispiel werden wir jetzt, da wir kaum Seminargäste haben, die Gästezimmer umwandeln als Wohnraum für die steigende Zahl an Praktikanten in der Landwirtschaft und für Menschen, die dringend bei uns ankommen möchten, für die wir aber keine Wohnung haben.
Dennoch zeichnet sich im Seminarbetrieb ab, dass es finanziell deutlich enger wird, die mühselige Zeit des „Aufrecht- Erhaltens“ vorbei ist und ein echter Neustart ansteht. Es braucht Mut, Klarheit und Entschiedenheit, lieb gewordenes loszulassen. Da sind wir noch mitten drin und werden im nächsten Newsletter berichten, was im Loslassen und neu Kreieren entstehen wird. Mir scheint, als sei diese kreative Schöpferkraft ähnlich unaufhaltsam am Wirken wie die Lebenskräfte der Natur in jedem Frühling.

Summa summarum

Die 13 Monate waren lebendig, anstrengend, herausfordernd und haben uns persönlich und gemeinschaftlich wachsen lassen. Licht und Schatten eines jeden Gemeinschaftsmitgliedes, das aktiv oder passiv, bewusst oder unbewusst diesen ringenden Prozess mitgestaltet, treten deutlicher hervor. Das ist gut so – soweit es uns gelingt, klärende und heilende Räume für den Umgang mit den Schatten zu schaffen, sowohl der individuellen wie des Gemeinschaftsorganismus. Wenn das Erkennen und Loslassen von eigenen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Identifizierungsmustern Ausdruck eines spirituellen Weges sind, dann vertieft sich gerade unsere gemeinschaftliche Spiritualität.

Für manche von uns ist diese Zeit ausgesprochen frustrierend, z.B. für die drei Schülerinnen, deren Cafébetrieb so erfolgreich angelaufen und nun durch den Lockdown seit Monaten lahmgelegt ist. Sie werden mit ihrem Schulabschluss in diesem Sommer neue Lebensprojekte angehen, haben im stillgelegten Betrieb aber kaum eine Chance, Nachwuchs aus der Schule zu gewinnen und einzuarbeiten.

Diejenigen von uns, die die größten Spannungsfelder zu halten haben, sind oft an der Grenze dessen, was noch geht. Im Spagat zwischen dem Anliegen, in unserer Schule den politischen Verordnungen gerecht zu werden und der inneren Integrität, die sich den Kindern und dem freien pädagogischen Konzept unserer Schule verpflichtet sieht, ergibt sich ein nicht leicht aufzulösender Widerspruch. Ähnliches gilt für den Seminarbetrieb. Zwischen immer enger werdenden behördlichen Auflagen, widersprüchlichen Bedürfnissen von Teilnehmern („ich komme nur, wenn ich garantiert keine Maske tragen muss“, „ich komme nur, wenn alle Masken überall tragen“), einer enormen Nachfrage von außen, die Gemeinschaft kennenlernen zu wollen und dem Druck der eingeschränkten Möglichkeiten zur Teilhabe vor Ort ist es eine ständige Herausforderung, einen stimmigen Weg zu finden. Dauernde Umplanungen und Absagen zehren an den inneren Kraftreserven des Teams, und es fehlen die Erfolgserlebnisse von freudig-leichten Veranstaltungen mit glücklichen Teilnehmern.

Und seit Monaten suchen wir nach dem gemeinschaftlich getragenen politischen Ausdruck. Vielleicht ist es so wie in Rilkes Brief an einen jungen Dichter: Wir leben allmählich in die Antwort hinein.

MarieLuise Stiefel

Aktuelles

  • Tempelhof News Herbst 24

    Der Herbst ist eingekehrt und bringt eine Fülle von Farben und Erlebnissen mit sich! Wir laden euch ein, in unserem aktuellen Newsletter die Highlights der vergangenen Monate zu entdecken. Viel Freude beim Stöbern!

  • Regionale Vernetzung

    Gemeinsam die Region gestalten! Zum 3. Mal wurde am 15.10.2024 ein regionales Vernetzungstreffen für Gruppen und Organisationen aus dem Bereich Nachhaltigkeit der Region Hohenlohe-Franken-Tauber durchgeführt. Es gab wieder einiges Neues zu erfahren! Hier der Bericht und die vorgestellten Projekte.

  • Zukunftsjahr startet am 13.September

    Das Zukunftsjahr ist eine gute Alternative zu Freiwilligendiensten, Praktikum, Reisen und Au Pair. Gemeinsam mit bis zu 14 anderen jungen Menschen wirst du in deiner individuellen Lebens- und Berufsorientierung unterstützt und erlangst Wissen in vielen verschiedenen Themen. Hier ist ein kleiner Einblick: Zuja – der Film (Link vimeo).

Veranstaltungen