Seit nun bereits über einem Jahr versuchen wir hier in unserer Gemeinschaft mit der Krise umzugehen. Wir, als Abbild der Gesellschaft im Mikrokosmos, also mit allen Schattierungen und Polaritäten, die sich auch in der Gesellschaft zeigen. Jeder erlebt gerade, wie unsere Gesellschaft zerbricht an immer aggressiveren Haltungen, Meinungen und Rechthaben wollen – und so war es auch für uns eine große Herausforderung, mit diesen Spannweiten intern und auch mit unseren Nachbarn und Gästen umzugehen. Von Anfang an war uns bewusst, dass wir dies nur im gemeinschaftlichen Austausch und mit herzlicher Beziehungsarbeit bewältigen werden können. Unser großes Glück und auch unsere Potential – denn in diesen Begegnungsformen sind wir nun bereits seit 10 Jahren sehr geübt.
Selbstverantwortung und Achtsamkeit
So war unser erster Impuls, als die Krise im März letzten Jahres begann und niemand recht wusste, was da auf uns zukommen wird, unsere Vorerkrankten und Alten in die gemeinsame Mitte zu holen und in Ruhe zu zuhören, welche Ängste sie haben und was sie denn wirklich bräuchten. Denn, wenn heute von so vielen Menschen über Solidarität gesprochen und geschrieben wird, gerade auch von denjenigen, die sich vor Corona nicht wirklich um die Probleme unserer Welt gekümmert hatten – liegt es dann nicht auf der Hand, zuerst mit diesen betroffenen Menschen zu sprechen, was ihnen denn wirklich helfen würde? Die Reaktion war für viele von uns erstaunlich: Denn allen Betroffenen war am wichtigsten, für sich selbst verantwortlich sein zu können („wir sind alt genug“), nicht isoliert zu werden und eben „sollte der Tod kommen wollen“ in unserer Mitte gehen zu dürfen. Dies hatte uns sehr berührt, denn damals wusste ja wirklich noch niemand, was dies alles noch werden würde. Und es hat uns gemeinschaftlich dazu gebracht, unseren ganz eigenen Weg der Selbstverantwortlichkeit in Verbindung mit Achtsamkeit zu leben: Jede:r sorgt selbstverantwortlich für seine Grenzen und Bedürfnisse – und jede:r ist gleichzeitig achtsam, was denn der jeweils andere braucht.
So ziehen wir uns aus eigener Entscheidung in unsere privaten Räume zurück, soweit es jede:r für notwendig erachtet, und achten gleichzeitig darauf, dass ein unterschiedliches Abstandsbedürfnis zwischen unseren Gemeinschaftsmitgliedern auch entsprechend unterschiedlich beachtet wird. Wir sprechen viel über unsere und gesellschaftlichen Ängste, versuchen uns in der Breite zu informieren (was schon alleine dadurch gelingt, da wir Bewohner:innen mit ganz unterschiedlichen Meinungen haben) und versuchen, uns in unserem Verhalten nach dem abgefragten Widerstand gegen dies oder jenes zu orientieren.
Häusliche Gemeinschaft
Um unsere komplexe Struktur als soziales Gebilde, wirtschaftlicher Betrieb und soziale Organisation in allen Bereichen gut durch diese stürmischen Zeiten zu bekommen, haben wir unsere Betriebe und unser soziales Gemeinschaftsgebilde jeweils unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher und sozialer Belange betrachtet und soweit als möglich voneinander getrennt. So konnten sich die Betriebe (Gäste- und Seminarhaus, Café, Schule, Baubereich, Hausverwaltung, Landwirtschaft) ihre jeweils stimmigen Hygienekonzepte aufstellen ohne von den Bedürfnissen des Sozialgebildes Gemeinschaft zu sehr beeinflusst zu werden. Die Gemeinschaft als Wohn- und Lebensort wurde umgekehrt nicht von den zum Teil strengen betrieblichen Maßnahmen in ihren wesentlichen Umgangsformen unmöglich gemacht. Der wesentliche Schritt war dabei, dass wir uns als eine große häusliche Gemeinschaft aufgestellt und mit den örtlichen Behörden dann auch so besprochen hatten. Denn unsere Gemeinschaft mit der gemeinsamen Versorgung, den zahlreichen Begegnungsforen und vielen gemeinsamen Arbeitsprojekten auch außerhalb unserer gemeinsamen Betriebe, vor allem unsere Vision eines gemeinschaftlichen Lebens, hätte nicht weiter existieren können ohne diesen verantwortlichen Schritt.
Und dieser Schritt war heute, zurückschauend betrachtet, ein wirklich verantwortlicher – denn jede Geste, jede Handlung, jede Äußerung Einzelner aus der Gemeinschaft im Außen bedeutet – gerade heute, in einer hoch polarisierten und aufgeheizten Gesellschaft – immer gleich: „Der Tempelhof!!“ Mit Zunahme der Vereinfachungen und Abstraktionen in unserer Gesellschaft, von Aufteilungen in Gut und Böse, in Richtig und Falsch liefen und laufen wir mehr und mehr Gefahr, in der Umgebung und der Öffentlichkeit als „Die da“ verallgemeinert zu werden – und dies, wenn nur eine Person aus unserer so vielfältigen Gemeinschaft eine Position einnimmt oder auf eine bestimmte Weise handelt.
Da wir ja als demokratisch organisierte Gemeinschaft, mit dem Anspruch alle hören zu wollen, keine top-down Vorgaben aufstellen können (und wollen), mussten wir uns im besten demokratischen Sinne immer wieder bewusst machen, um was es uns geht und was auch anderen Menschen wichtig sein mag. Wir erlebten und leben so eine ausgeprägte Kultur des Zuhörens, des im Kontakt Bleibens und des oft auch schwierigen miteinander Ringens. So konnten wir – anders als oft in der Gesellschaft – im Wesentlichen unsere Gemeinschaft im Frieden halten, ja stärken. Das Verständnis dafür, dass es nicht nur eine Wirklichkeit gibt und es deswegen Annäherungen braucht, konnten wir täglich im Alltag erleben.
Über 12 Monate kamen wir so auf unserem ganz spezifischen Weg von Selbstverantwortlichkeit, Achtsamkeit und Treue zu unseren Werten gut durch die Krise – auch wenn unsere Schulkinder, Betriebe und viele Freiberufler schwer unter den Verwaltungsvorschriften zu leiden haben. Vor allem blieben uns größere Krankheitsfälle und der Verlust unserer Visionen, unseres Zusammenhalts und unserer Verbundenheit mit der Umgebung erspart – obwohl natürlich auch bei uns die wachsenden Spaltungen in der Gesellschaft Auswirkungen auf die Meinungsbildung Einzelner hat.
Zwei Wochen Quarantäne
Jetzt haben wir zwei positiv auf Corona getestete Erwachsene. In diesem Zusammenhang wurde nun leider durch unkorrektes, unachtsames Verhalten von betroffenen Personen Ärger und Unverständnis in der Umgebung und dem Gemeindeamt ausgelöst, mit Recht. Und so wurde nun durch die örtlichen Behörden eingefordert, mit der ganzen häuslichen Gemeinschaft für 14 Tage in die Quarantäne zu gehen.
Wir sind uns sehr bewusst, dass wir mit unseren Rechten als häusliche Gemeinschaft auch Pflichten übernommen haben.
In unseren Werten steht dazu:
„Durch ein bewusstes Ich, das seinen Platz einnimmt, kann ein gemeinsames Wir geschaffen werden.“
Und zu Verantwortung:
„Geben und Nehmen stehen im Gleichgewicht. Jeder trägt Verantwortung für sich und die Gemeinschaft. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft zur Selbstreflexion.“
So gehen wir nun gemeinsam solidarisch bis zum 11.Mai aus den Außenkontakten und empfangen keine Besucher oder Mitarbeiter mehr.
Wir tun dies einvernehmlich trotz sicherlich unterschiedlicher Auffassungen, was politische Vorgaben und die Sinnhaftigkeit von Vorschriften betrifft. Damit wünschen wir uns von ganzem Herzen, dass wir so hier in der Region auch dazu beitragen können, miteinander und nicht gegeneinander zu leben. Auch wenn unter Menschen manchmal nicht nachvollziehbare Fehler geschehen.
Was uns dabei gerade wirklich hilft, sind die vielen Unterstützungsangebote von Nachbarn, die nun für uns einkaufen, den Jungpflanzen-Verkaufsstand in Riegelbach (bei der Metzgerei Ziegler) betreiben oder die Gemüsekisten der solidarischen Landwirtschaft ausfahren.
Herzlichen Dank für diese gelebte Solidarität.
Wolfgang Sechser