Von Stefanie Raysz
„Schule bleibt offen“ – Eine Elterninitiative am Tempelhof klagt gegen die mehrmonatigen Schulschließungen im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht muss nun untersuchen, ob dies grundrechtswidrig war. Das Urteil wird im November erwartet.
Misstrauen, Ohnmacht, Wut, Unverständnis – seit neunzehn Monaten legen sich diese Gefühle wie eine Decke über Deutschland und die Welt. Nichts scheint, wie es einmal war. Die Sehnsucht nach „Normalität“, dem gewohnten Leben mit den bewährten Werten, wächst, obwohl niemand mehr sagen kann, wie diese wohl wieder aussehen wird. Es ist ein Ausnahmezustand, verursacht durch ein unsichtbares Virus, das so ziemlich alle Schwachstellen und blinden Flecken in unserer Gesellschaft und an unserem Lebensstil aufdeckt. Dem wachsenden Chaos im Inneren der Menschen folgten staatliche Gesetze und Verbote im Außen in bisher nie da gewesenem Ausmaß. Nun stellt sich die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen, die die Regierung in den letzten Monaten zum Teil Hals-über-Kopf umsetzte. Zahlen und Statistiken sollen Ruhe bringen. Aber so einfach ist das alles nicht.
Die Gemeinschaft und die Schule in Coronazeiten
Wir in der Gemeinschaft am Schloss Tempelhof sehen uns ebenfalls Bergen an Informationen gegenüber, die „die Welt“ produziert und häufig nicht genau prüft oder nicht in einen sinnvollen Kontext stellt. Wir versuchen, im Austausch darüber zu bleiben, welche Ängste und Sorgen obenauf liegen und wie wir ihnen begegnen können. In der Gemeinschaft und mit den Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben.
Auch unsere Kontaktpunkte mit den Nachbardörfern und Menschen außerhalb Gemeinschaft, unsere freie Schule mit ca. 90 Schüler*innen von intern und extern, waren und sind von all dem betroffen. Wie überall, herrschte hier in den letzten Monaten ein Öffnungs-, Quarantäne- und Lüftungschaos. Maskentragen, Abstand, künstliche Kleingruppen und Wechsel- und Fernunterricht machte auch an unserer Schultür nicht Halt. Und wir haben uns gefragt, warum dies genau bei dieser Bevölkerungsgruppe – immerhin sind das knapp 11 Mio. Menschen in Deutschland unter 20 Jahren – sein muss.
Seit Sommer 2020, also vor mehr als einem Jahr, war bereits klar, dass Kinder und Jugendliche in diesem Virusgeschehen am wenigsten gefährdet und für die Virusübertragung am geringsten verantwortlich sind. Lange lag der Fokus der Aufmerksamkeit nur auf unseren alten und chronisch kranken Menschen. Zu ihrem Schutz gab es „Notbremsen“ und harte Einschnitte im sozialen Leben. Unsere Schüler*innen befanden sich währenddessen unter dem politischen und gesellschaftlichen Radar, hatten und haben aber die schärfsten und dauerhaftesten Einschränkungen erfahren. Schulschließungen und Homeschooling vor dem Bildschirm, über Wochen und Monate hinweg, waren das scheinbar probate Mittel, die „vulnerablen Gruppen“ und die Gesellschaft als solche zu schützen. Wir haben aber vergessen, dass unsere Kinder keine Zimmerroboter mit Autopilot sind.
Eine Reihe von Eltern am Tempelhof – die Initiative „Schule bleibt offen“ – hat deswegen im Frühsommer beim Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde zu den automatischen Schulschließungen eingereicht. Unsere „rote Linie“ im Maßnahmenwahnsinn war erreicht. Schulen dürfen nicht automatisch geschlossen werden, nur weil ein bestimmter Inzidenzwert erreicht wird, unabhängig ob viel oder wenig getestet wird. Psycholog*innen, Ärzte- und Krankenkassenverbände, Erziehungswissenschaftler*innen, Universitäten und Kinderschutzstiftungen veröffentlichten schon im letzten Jahr viele Studien zu Langzeitfolgen für Kinder, wenn sie nicht zur Schule gehen dürfen. Wir werden den Bildungsverlust als Bugwelle in den nächsten Jahren vor uns herschieben. Psychische Störungen durch Isolation und die Unruhe bei Eltern und Lehrer*innen münden in Depression. Angst- und Kontaktstörungen nehmen zu, und lassen Wartelisten in Kliniken und bei Therapeut*innen anschwellen. Suizid ist nun auf Rang drei der Todesursachen der unter 20-Jährigen, immer mehr fühlen sich lust- und antriebslos und hängen am Handy ab. Auch bei den Jüngsten unter uns wuchs der Coronaspeck, die Folgen sind nicht nur auf der Waage zu sehen. Bewegungsmangel führt zu weniger geistiger Aktivität – eine psychosomatische Kombi, die Kinder und Jugendliche in ihrer Ganzheitlichkeit negativ beeinflusst und ihre Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung stört. Dies wurde bisher nicht ausreichend berücksichtigt.
Warum wir klagen
Neben unserer Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht wurden nur drei weitere von ca. 260 anderen Verfassungsbeschwerden angenommen. Es geht uns dabei um eine Grundsatzentscheidung, künftig die Rechte der Kinder in ähnlichen Situationen zu stärken. Das Gericht soll prüfen, ob die „Bundesnotbremse“ rechtens war und von der Regierung wieder aktiviert und dadurch das Grundrecht auf Bildung erneut gefährdet werden könnte. Wir wollen nicht hinnehmen, dass die Schulen künftig weiterhin von stärkeren Einschränkungen betroffen sind als die Arbeitswelt, wo es erwiesenermaßen zu mehr Ansteckungen kommt.
Bisher sind Schulschließungen im Eilverfahren und als Teil von Maßnahmenpaketen durchgesetzt worden, ohne dass diese einzeln gerichtlich geprüft wurden. Kinder dürfen nicht objektiviert und reine „Bausteine“ eines Pandemie-Gesamtkonzeptes sein. Wir gehen davon aus, dass die mehrmonatigen Schulschließungen in 2020 und 2021 nicht erforderlich und grundrechtswidrig waren. Das Recht auf Bildung, Art. 2 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetztes, ist jedoch von überragender Bedeutung, da davon die gesamte Zukunft und der Lebensweg des Menschen abhängt, letztlich auch seine psychische und physische Gesundheit. Es spricht, wie dargestellt, einiges dafür, dass andauernde Schulschließungen die Kinder und Jugendlichen unter dem Strich stärker gefährden als COVID-19. Das Urteil wird im November 2021 erwartet.
Alle Informationen zu unserer Verfassungsbeschwerde und Kontakte sowie eine Spendenmöglichkeit finden Sie unter: www.schule-bleibt-offen.de