Von den Kogi lernen – Bericht über eine Begegnung mit einer uralten, ganz lebendigen Kultur
„Die haben keine Hierarchie. Aber sie haben eine Ordnung und die ist natürlich“ – so hat es eine von uns ausgedrückt, als wir einige Tage nach dem Besuch der Kogi zusammensaßen und unsere Eindrücke zusammentrugen. Unsere Vision – ein Leben in Verbundenheit – praktizieren die Kogi seit 4000 Jahren. Sie leben Verbundenheit unter den Menschen, mit der gesamten nichtmenschlichen Mitwelt und den Kräften des Kosmos. Es ist ihre natürliche Haltung, auf diese Art in der Welt zu sein. Dieses Ruhen in einer natürlichen Ordnung ist spürbar und hat sich irgendwie auf uns übertragen. Es fühlt sich an, als hätten sie einen energetischen Eindruck in unserem Feld hinterlassen. Etliche von uns sagen: Uns hat ein „Spirit“ erfasst.
Doch zurück zum Anfang. Wie kommt es, dass vier Kogi – in unserem Umfeld recht exotische Gestalten aus den hohen Bergen der Sierra Nevada de Santa Marta in Kolumbien – ausgerechnet in Hohenlohe, in unserem winzigen Dorf Tempelhof landen?
Bald zwei Jahre ist es her, dass bei uns das Kogi-Fieber ausgebrochen ist, ein Virus der geistigen Art, der einige von uns infiziert hatte. Es begann mit dem Buch von Lucas Buchholz „Kogi. Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert“. Lucas war von den Kogi eingeladen worden, ein paar Monate bei ihnen zu leben, um dann ein Buch über ihre Weltsicht und ihr darin eingebettetes Leben zu schreiben. Dieses Volk lebt zurückgezogen in den hohen Bergen an der kolumbianischen Karibikküste und pflegt seit Jahrtausenden eine friedliche und nachhaltige Kultur, im Einklang mit universellen Lebensprinzipien und im tiefen Wissen um die Genialität und Intelligenz der Natur. Letztes Jahr im Frühjahr war Lucas bei uns zu einem Workshop und erwähnte nebenbei, es sei geplant, dass einige Älteste der Kogi nach Deutschland reisen. Fortan sind wir drangeblieben, dass sie auf ihrer Reise auch zum Tempelhof kommen.
Und dann ist es soweit: Drei Tage sind sie Anfang September Gäste bei uns, zwei Mamos (weise Männer), eine Saka (weise Frau) und ihr Übersetzer, der so etwas wie der Bürgermeister ihrer Region ist und eine große Schule für Kogi-Kinder leitet. Mamos und Sakas sind spirituelle Berater und Mentoren, die mit ihrer Arbeit auf geistiger Ebene dafür sorgen, dass die Kogi im Einklang mit der Erde und kosmischen Prinzipien leben. Auf diese Aufgabe werden sie von Kleinkind an in einer 18jährigen Ausbildung, in vollkommener Dunkelheit lebend, vorbereitet. Ich erwähne dies, weil es verdeutlicht, welch hohen Besuch wir hatten – alle drei um die 80 Jahre alt. Einer der Mamos hat mit dieser Reise erst zum zweiten Mal seine Heimatregion verlassen. Das an sich ist schon berührend.
Aus Sorge um die Zukunft der Menschheit und des Planeten machen sie sich auf diese Reise. Sie verstehen die Aufgabe ihres Volkes als Hüter der Erde. In ihrer Region, für sie das Herz der Erde, tun sie alles dafür, die Dinge in einer harmonischen Ordnung zu halten. Aber wir zerstören so viel, dass das von ihnen nicht mehr auszugleichen ist. Sie, die „Älteren Brüder“ brauchen uns, die „Jüngeren Brüder“, um der Menschheit eine lebendige Zukunft zu erhalten. Ihr habt noch, so sagen sie uns, ein paar Generationen Zeit. Fragt euch, und fragt die Verantwortlichen in eurer Gesellschaft: Wie lange soll es die Menschheit noch geben? Wenn ihr jetzt nicht anfangt, euer Leben an den Prinzipien der lebendigen Ordnung auszurichten, wird die Erde selbst für Ordnung sorgen. Wenn ihr heute anfangt, einen entsprechenden Samen in den Kindern zu legen, dann dauert es drei, vier Generationen, bis sich dies auswirkt.
Die Kogi lehnen es ab, ihr Wissen mit Völkern zu teilen, die gar keine Verbindung mehr zu ihrem ursprünglichen tiefen Wissen haben. Denn sie können uns nur an etwas erinnern, was in uns angelegt ist. Ist es nicht ein Zeichen der Hoffnung und Verantwortung zugleich, dass sie nach Europa reisen? Zu uns??!
Dialog der Kulturen
Sie kommen auch, um verstehen zu lernen, wie wir denken und handeln – wie es sein kann, dass wir eine Lebensweise gewählt haben, die so viel Natur und letztendlich die Menschheit selbst zerstört. Sie wollen nicht, dass wir ihren Lebensstil kopieren – das ginge sowieso nicht. Sondern um in einen kreativen Dialog zu kommen, wie ihr ursprüngliches Wissen sich mit den hiesigen regenerativen Ansätzen und Lebensweisen verbinden und ein Zusammenleben ausgerichtet am Prinzip der Lebendigkeit entwickeln lässt. Sie stellen nicht Technik an sich infrage, sondern ermutigen dazu, Technik an den genialen, in Millionen Jahren der Evolution entwickelten Prinzipien der Natur zu orientieren.
Das mit dem Dialog ist so eine Sache. Es gibt drei Workshops und einen Abendvortrag. Unsere Schulaula ist rappelvoll, beim Abendvortrag sind 200 Menschen, bei den Workshops 150. Es wird übersetzt: Von Kággaba, der Sprache der Kogi, ins Spanische und dann ins Deutsche. Oder andersherum. Das braucht seine Zeit. Aus einer Antwort der Kogi entstehen viele neue Fragen, die aus Zeitgründen nicht mehr gestellt werden können. Aber sie sind ja zu uns gekommen, um uns zu inspirieren – und was ist inspirierender als eine Frage auf dem Weg zu einer selbst zu findenden Antwort? Ja, wir hätten gerne Antworten und konkrete Ratschläge – werden aber von den Ältesten immer wieder auf uns selbst zurückgewiesen: Was sind eure Gedanken, die dazu führen, dass die Welt so aussieht? Wenn ihr vor 50 Jahren schon Informationen hattet, was euer Lebensstil anrichtet (davon hatte ein Teilnehmer gesprochen), warum habt ihr nichts verändert?
Sie erzählen, was die Frauen ihre Töchter lehren und Väter ihre Söhne, und fragen uns: Was lehren eure Väter ihre Söhne – eure Mütter ihre Töchter?
Als ich im Geiste nach Antworten suche, spüre ich in der Präsenz dieser Ältesten, wie sehr meine möglichen Antworten nach Ausrede „riechen“. Im Licht ihrer so selbstverständlichen Radikalität fallen komplizierte Gedankenkonstrukte in meinem Kopf wie in sich zusammen. Es gibt nichts zu sagen – nur zu spüren. Da ist vor allem Scham. Ein Erkennen, dass mein ach so kluger Kopf keinen wesentlichen Beitrag beizusteuern hat, sondern nur Kapriolen vollführt, die mich vom schlichten Handeln wegführen.
Tätige Hoffnung
Eine Teilnehmerin spricht von ihrem Schmerz und ihrer Machtlosigkeit gegenüber den Konzernen, die so unaufhaltsam unsere Mitwelt zerstören – und die Kogi wundern sich: Wieso sprecht ihr von „wir“ und „die“? Wieso fühlt ihr euch so getrennt von denen, die die Welt zerstören? Wir sind eine Menschheit. Sie verweisen uns immer wieder darauf: Es beginnt bei dir! Sie erzählen uns, wie es ihnen geht, wenn wieder ein Stück Natur in ihren Bergen planiert und zugebaut wird: Sie spüren Schmerz, Trauer, Wut, aber verweilen nicht darin. Sie sagen, der einzige Weg wieder zu finden, was verloren ist, sei, sich darauf zu besinnen, wie es ursprünglich war. Samen, Gedanken zu säen, dass sich Menschen gerne um die Natur kümmern. Dann wenden sie sich wieder dem zu, was ihnen Freude macht, was sie zur Heilung beitragen können, was in ihrem Inneren die Ordnung wieder herstellt. Sie ermutigen uns, nicht in Weltschmerz hängen zu bleiben, weil dies nur mehr negative Energie anzieht und uns vom Handeln abhält. Sondern uns auf das auszurichten, was wir tun können, um Lebendigkeit zu fördern. Es geht nicht um eine naive Hoffnung, „Wird schon gut gehen“, sondern um „Tätige Hoffnung“.
Handeln aus Verbundenheit
Beim Rundgang über unser Land möchten wir immer wieder gerne wissen: Schaut, so machen wir das. Ist das aus eurer Sicht richtig? Sie sagen aber nie, das ist richtig oder das würden wir anders machen, sondern sie fragen: Wie seid ihr zu der Entscheidung gekommen? Und wenn sie hören, dass im Vorfeld, in Verbindung mit der Erde und den Beteiligten untereinander, vieles besprochen und abgewogen wurde, dann sagen sie: Dann ist das, was ihr tut, das Richtige.
Am Abend des ersten Tages feiern wir um 18 Uhr unseren diesjährigen Erntedank, eine Stunde in der Mitte unserer Dorfwiese. Ein wunderschönes Mandala mit allem, was die Erde uns geschenkt hat, gemeinsames Singen und die Möglichkeit für alle, ganz individuell einen Dank, einen Segen zur Erde zu sprechen. Es ist ein schöner Sommerabend, die Menschen verteilen sich essend und plaudernd in kleinen Gruppen über den ganzen Platz und später am Abend gibt es noch eine Disco. Die Kogi berichten am nächsten Tag, es sei das erste Mal, dass sie auf ihren Reisen in nichtindigene Gegenden so ein Erntedankritual erlebt hätten. Sie sind „einverstanden“ (das sagen sie immer, wenn eine Antwort ihr Wohlgefallen findet), aber sie wundern sich über die Kürze. Bei ihnen würde so ein Ritual 4 Tage und Nächte dauern. Sie wundern sich auch, weshalb wir afrikanische oder englische Lieder singen. Und einer der Mamos sagt dann noch, er fand alles schön, aber er sei müde gewesen und froh, dass die Lieder irgendwann aufgehört hätten. Wir wundern uns ein wenig, bis uns aufgeht, dass er die Disco (leider in unserem Gästehaus hörbar) als Teil des ganzen Rituals wahrgenommen hat. Bei den Kogi sind die Dinge eben nicht und nirgends getrennt.