Erfahrungen aus dem ersten Zukunftsjahr
Von Ben Hadamovsky
Seit einigen Jahren sammeln wir Erfahrungen damit, junge Erwachsene auf der Suche nach ihrem eigenen Weg in eine zunehmend herausfordernde Zukunft zu unterstützen. Mit dabei immer die Frage: „Was kann der Tempelhof ganz speziell dazu beitragen?“
Aus den Sommercamps „Orientierungswerkstätten“ und dem Projekt JuBa (Jugend baut), in dem 7 junge Erwachsene über einen längeren Zeitraum zwei Tinyhäuser gebaut und einen Entwurf für das Kulturzentrum von TamieH in Crailsheim entwickelt hatten, entstand im letzten Jahr das Format Zukunftsjahr für junge Erwachsene von 18 – 26 Jahren.
Die Idee
10-15 junge Menschen leben für 11 Monate bei uns in der Gemeinschaft. Sie wohnen auf zwei Etagen des frei gewordenen alten Gästehauses als eigene kleine Gemeinschaft mit Küche, Gemeinschafts- und Seminarraum. Sie arbeiten zeitweise in unseren Betrieben mit, finanzieren so einen Teil der Seminarkosten und sammeln dabei zahlreiche Einblicke und Erfahrungen in Landwirtschaft, Gärtnerei, freier Schule, Waldkindergarten, Seminarbetrieb, Catering, Großküche, Hofladen, Bau und Hausmeisterei. Und sie machen eigene Projekte im Rahmen ihrer Einkommensgemeinschaft, aus der sie einen weiteren Beitrag zu den Kosten leisten.
Ergänzend dazu erforschen sie in der “Lebenskunst“ jeweils zwei Tage die Woche die verschiedensten Themen: von Gefühlsarbeit über Moderation zum inneren roten Faden. Dabei bewegen sie Fragen wie: Was ist meine Aufgabe im Leben? Was sind meine Fähigkeiten, aber auch Schwächen? Wo komme ich her mit meiner Familiengeschichte? Wie werde ich wirklich beziehungsfähig? Welches kann mein Platz in der Welt sein und was brauche ich, um ihn einzunehmen?
Wir konnten drei Stiftungen dazu bewegen, uns bei der Finanzierung der ersten zwei Jahrgänge zu unterstützen, um die Teilnahmekosten auf moderate 500 € pro Monat zu senken. An dieser Stelle ein ganz herzliches Danke dafür an die Postcode-Lotterie, die Software-AG-Stiftung und die Tempelhof-Stiftung!
Soweit die Idee. Wir waren neugierig und sehr aufgeregt, wie dann die Realität aussehen würde. Verkraftet die Gemeinschaft so einen Haufen lebendiger und teils wilder junger Menschen? Bekommen wir sie gut integriert in unsere Arbeitsprozesse? Können wir ihnen genug bieten, um sich wirklich kraftvoll zu entwickeln? Und überhaupt: Wer wird da kommen?
Die Umsetzung
Unsere Erwartungen und Hoffnungen wurden weit übertroffen! Der erste Jahrgang war ein verspielter, bunt gemischter Haufen junger Menschen, die sich innerhalb von Wochen sehr energisch mit der Dorfgemeinschaft verbunden haben. Vor allem die Kontakte zu den Kindern und Jugendlichen vom Tempelhof waren beeindruckend: Gruppen unterschiedlichsten Alters bildeten sich zu den verschiedensten Themen. Kinder, die sonst eher einzelgängerisch unterwegs waren, wurden durch die, liebevoll ZuJas genannten, Neuen aus ihren Schneckenhäusern gelockt. Aber auch zu älteren Menschen der Gemeinschaft entstand intensiver Kontakt.
In den ersten Monaten hatten wir drei Begleiter – Kira, Rainer und ich – uns vorgenommen, ihnen neben der Einführung in handwerkliches Arbeiten einen Werkzeugkasten an unterschiedlichsten Tools vorzustellen und einzuüben, mit dem wir in unserer Gemeinschaft gute Erfahrungen gemacht haben: WIR-Prozess, Gefühlsarbeit, Abstimmung im Konsensverfahren, Moderation, Council, systemisches Konsensieren, aber auch Forum und andere Formate. In Verbindung mit dem herausfordernden Prozess, sich als Gruppe zu finden und sich dazu noch in die große Tempelhofgemeinschaft zu integrieren, waren sie immer wieder stark gefordert. Dies äußerte sich in zahlreichen Krankheitstagen und intensiven inneren Prozessen. Dazu kam noch die schöne Herausforderung, dass wir als erstes großes Handwerksprojekt – nach dem Bau der eigenen Betten – die Gemeinschaftsküche für den neuen Wohnturm bauen durften. Das war Überforderung und Lernturbo gleichzeitig, zumal es ihr erstes eigenes wirtschaftliches Projekt war. Von der Planung über den Zuschnitt bis zum Schubladenbau wurde in verschiedenen Teams gewerkelt. Natürlich lief der Zeitplan aus dem Ruder. Und auch die geplanten Stundenlöhne wurden drastisch unterschritten, da vieles deutlich länger dauerte als geplant.
Bei allem dadurch verursachten Stress ist am Ende eine gebrauchsfähige Küche entstanden, die mit vielen recycelten alten Möbelteilen ein schönes Zentrum im Wohnturm bildet und dauerhaft an den 1. Jahrgang erinnern wird.
Ein starker Impuls der Gruppe war es, einen wöchentlichen Barabend im Schlosscafé zu veranstalten. Die Spürbar wurde geboren. Mit Open Stage, Powerpoint Karaoke und Life-Konzerten hat sie sich einen festen Platz im Tempelhofer Nachtleben erobert und den jungen Menschen Einblicke in den wirtschaftlichen Betrieb einer Kneipe ermöglicht. Trotz bescheidener Stundenlöhne standen sie immer fröhlich hinter dem Tresen und waren mit Begeisterung dabei.
Am Ende des zweiten Trimesters fand dann eine Art Revolution statt, in der sich die Gruppe dazu ermächtigte, uns als Begleiter zumindest aus der „Lebenskunst“ zu entlassen. Für uns ein sicheres Zeichen, dass sie auf dem Weg auch der inneren Verantwortungsübernahme den nächsten logischen Schritt gegangen waren. Das Ringen innerhalb der Gruppe, die Führung selbst in die Hand zu nehmen, aber auch die Angst davor zu scheitern oder dann eben allein mit der Verantwortung zu sein, war für uns begleitende Menschen von außen nur zu erahnen. Es war aber sicher ein entscheidender Teil des inneren Weges der Ausrichtung und Selbstermächtigung. Dass dann nur noch ein Teil von ihnen ein Tinyhaus bauen wollte und die große Mehrheit sich dazu entschied, als Abschlussprojekt ein Theaterstück selbst zu entwickeln und zur Aufführung zu bringen, war dann nur folgerichtig.
Es hat sich gelohnt!
Welch große Schritte die ZuJas in diesem Jahr gegangen sind, wurde dann am Ende des dritten Trimesters so richtig schön sichtbar: In einem grandios-improvisierten Abend stellten sie ihren Angehörigen und Tempelhofern das Zukunftsjahr und sich selbst als Teilnehmende in einer Mischung aus nachgespielten Einblicken in gemachte Prozesse und ironischer Brechung vor. Dies gipfelte dann zwei Wochen später in der Aufführung des Theaterprojekts Einsichten vor vollem Haus: Kraftvoll und mutig standen sie auf der Bühne und führten das begeisterte Publikum durch Lachen und Weinen zu einem gelungen Höhepunkt. Aus unsrer Sicht war das Jahr ein voller Erfolg: Für uns als Gemeinschaft, die durch die zahlreichen Begegnungen und Impulse der jungen Menschen reich beschenkt und auch gelegentlich herausgefordert wurde. Und für die ZuJas selber, die sich im anregenden Feld der Tempelhofgemeinschaft vielfältig ausprobieren konnten und nun kraftvoll, mutig und mit neu gewonnener Klarheit ihre nächsten Schritte in die Welt gehen. Ein Segen sei auf ihrem Weg!
„Ich danke euch ganz herzlich für eure Offenheit, Teil eures Dorf Alltags gewesen sein zu dürfen! Ich hab SOOOOO unfassbar viel gelernt!! Die Zeit im Zukunftsjahr und am Tempelhof hat mein Leben ganz nachhaltig geprägt und verändert. Ich hab z.B. so viel mehr Platz, mich zu beobachten, wahrzunehmen und für mich sorgen zu können, dass ich meine Aufmerksamkeit viel freier anderen Wesen schenken kann. Darüber bin ich wirklich enorm dankbar. Ich empfinde es als riesiges Geschenk“.
Mildred
Wie wäre es, wenn junge Menschen, deren Berufsweg nach der Schule noch unklar ist, selbstverständlich das Angebot bekämen, so ein Orientierungsjahr zu machen? Wie viele Studien- und Ausbildungsabbrecher könnten wir uns als Gesellschaft ersparen und wie würde sich die Gesellschaft verändern, wenn immer mehr Menschen wirklich die Berufe ergreifen würden, die ihnen ein Herzensanliegen sind, weil sie die Chance bekommen haben, ihren inneren roten Faden zu finden?
Dazu wollen wir aus vollem Herzen ermutigen.
Ausblick
Der zweite Jahrgang hat im September begonnen. Wir sind mittlerweile eine zertifizierte Berufsbildungsmaßnahme (AZAF) und die Teilnahme kann unter bestimmten Umständen von der Agentur für Arbeit gefördert werden. Das muss sich aber erst einmal bei den Ämtern herumsprechen. Um das 2. Jahr vollständig durchzuführen, fehlen uns noch ca. 35.000€. Und wie wir das Zukunftsjahr langfristig auch ohne die Unterstützung durch die Stiftungen finanziert bekommen, ist auch noch offen. Ideen und Unterstützungsangebote wie z.B. die Übernahme eines Stipendiums, oder ein Auftrag für den Bau eines Tinyhauses sind darum herzlich willkommen (Kontakt: ben.hadamovsky@schloss-tempelhof.de).
Wir jedenfalls finden, dass solche Formate eine wirklich sinnvolle Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft sind, denn diese jungen Menschen tragen den Spirit der Wandlung und den Mut, ihn real umzusetzen, von hier aus in die Welt.