20. März 2020
Im März verfolgen viele die neuesten Infos und Erkenntnisse zur Corona-Pandemie. Es ist eine ganz gemischte Atmosphäre – von Unsicherheit, was da auf uns zu kommt, bis zu aufmerksamer Gelassenheit, auch damit gut umgehen zu können. Täglich wird auf die neueste Verordnung geschaut und geprüft, in wie fern unsere Betriebe und die Schule betroffen sind, aber auch unser Zusammenleben. Schließung bzw. Kurzarbeit, Hygienemaßnahmen, unsichere Zukunftsperspektiven – es gibt Diskussionen, wie sich all die Verordnungen umsetzten lassen, vor allem, da so viele Räume im Alltag von 150 Menschen geteilt werden. Das Spektrum reicht von „Verordnungen einhalten“ bis „selbstverantworteter Schutz vor dem Virus“. Das zerrt natürlich an den Nerven. Die Erleichterung kommt, als wir erfahren, dass Verwaltung und Polizei unser Sondermodell des gemeinsamen Lebens und Arbeitens als „Häusliche Gemeinschaft“ einstufen. Unser Ansatz, durch eine gepflegte Beziehungs- und Kommunikationskultur auch in großer Vielfalt als verbundene Gemeinschaft zu bestehen, scheint sich zu erfüllen.
Auf der anderen Seite gibt es auch positive Effekte: Entschleunigung, Zeit mit den Kindern, Zeit sich auszutauschen. Mehr als sonst helfen Gemeinschaftsmitglieder in der Landwirtschaft mit, weil keine Helfenden Gäste eingeladen werden können.
Anfang April 2020
Eine Zeit lang gehen gemeinschaftssintern Emails hin und her – mit dieser und jener Information zur (Un-)Gefährlichkeit des Coronavirus oder zur Bewertung der Maßnahmen. Am Anfang dienen diese Informationen hauptsächlich der Untermauerung der jeweils eigenen Haltung. Unsere „Email-Kultur-Wächterinnen“ setzen ein „Stopp!“ und wir tauschen uns u.a. über eine förderliche Grundhaltung aus, in der wir uns wechselseitig über die Entwicklungen kundig machen. Spirituelle Räume werden uns wichtiger. Unsere sozialen Runden (Wir-Prozess, Sozialforen) sind voll wie lange nicht mehr. Hier ist der Raum, persönliche Erfahrungen und Ängste auszudrücken. Es wird geweint, gelacht und herumgealbert und es entsteht Verständnis, Anteilnahme, Vertrauen und Respekt für jeweils ganz unterschiedlichen Positionen.
Wir haben seit Wochen sonniges Wetter, kein Regen – was die Sorge über den weltweiten Klimawandel viel akuter werden lässt. „Die Krise“ rückt fragile Versorgungsketten ins Bewusstsein und die Frage, wie die regionale Versorgung noch weiter und umfassender ausgebaut werden kann. Zwei Tempelhoferinnen starten die Initiative zum Aufbau eines regionalen Netzwerkes (s. Artikel “ Zukunft jetzt gestalten“)
12. April 2020 – Ostern
Aufgrund der eingeschränkten Reise- und Besuchsmöglichkeiten und der ausfallenden Seminare verbringen die meisten von uns das Osterfest hier. Das hatten wir noch nie. Es ist schön, mehr Zeit für private Begegnung zu haben. In dem Haus, in dem wir wohnen, gibt es zum ersten Mal in 10 Jahren einen gemeinsamen Osterbrunch.
Wir versuchen weiter, unsere verschiedenen Bedürfnisse und Ängste gemeinsam in großen Runden abzuholen und zu integrieren. Dies gelingt uns immer besser und viele von uns erleben Gemeinschaft neu, dichter und solidarischer als in den letzten Jahren. Es gibt ein paar Wenige unter uns, die sich mit unserem selbstverantwortlichen Umgang mit Corona nicht anfreunden können. Die über die großen Medien geschürte Panik, die unsere Gesellschaft immer mehr spaltet, hat auch bei uns Auswirkungen. Zwei Mitglieder der Gemeinschaft, die schon lange dabei sind und sehr viel Tatkraft und Knowhow eingebracht haben, nehmen diese Kontroverse zum Anlass, unsere Gemeinschaft zu verlassen. Sie sagen allerdings, dass sie schon seit längerem nur noch wenig Übereinstimmung zwischen ihren persönlichen Werten und denen der Gemeinschaft wahrgenommen haben und „Corona“ nun den Schlusspunkt setzt.
Nachdem wir in den ersten Wochen mehr mit dem Verarbeiten des Geschehens beschäftigt waren, bricht doch bald auch wieder unsere kreative Tatkraft durch. Roman und Wolfgang bieten für unsere Jugendlichen in der Bibliothek der grund-stiftung politisch-ökonomisch-philosophische Abende zu den Auswirkungen der „Krise“ an. Diese jungen Menschen sind inzwischen begeisterte DebattenrednerInnen. Es ist erstaunlich, wie sie ganz „analog“ und ungeheuer wach um die unterschiedlichen Perspektiven ringen. Und dabei recht interaktiv von den ganz persönlichen Erfahrungen (keinen Job mehr – die Großmutter ist gefährdet – lasse ich mich gegebenenfalls impfen, obwohl ich eigentlich gegen Impfungen bin?) zu den großen Themen wechseln (chinesisches Kollektiv- versus westeuropäisches Individualsystem). Inzwischen fanden drei solche Abende mit 15-18 jungen Leuten zwischen 15 und 20 Jahren statt. Genau hier bei diesen jungen aufgeweckten Menschen fängt unsere Zukunft wirklich an. Annika, eine junge Frau aus dieser Gruppe, geht dafür seit drei Wochen auf die Straße (warum, das beschreibt sie in ihrem Beitrag „Wofür gehe ich?“)
30. April 2020 – Petition unserer „Risikogruppe“
Um sich in dem Wust von Informationen und Haltungen innerlich zu sortieren, bringt MaLu (zählt mit ihren 69 Jahren zur Risikogruppe) ihre Gedanken zu Papier. Diese finden in der Gemeinschaft viel Resonanz, fast alle Älteren von uns unterzeichnen die Erklärung.
Sie verbreitet sich schnell über die Gemeinschaft hinaus und es wird vielfach der Wunsch geäußert, das Papier ebenfalls zu unterzeichnen. Dies führt dazu, dass wir die Erklärung als Petition bei change.org ins Internet stellen. Diese hat am 14. Mai bereits über 20 000 Unterzeichner.
Hier der Link zum Text und zur Petition: http://chng.it/BFBfrR6nth
1. Mai 2020
Unser Klassiker, das 1.Mai-Fest fällt aus, wir nutzen die Zeit für einen Intensivtag zum Thema „gemeinsame Haltung“ im Umgang mit den Folgen der Corona-Krise. Wir lernen in diesen Zeiten vertieft, was Gemeinschaft ausmacht: Vielfalt von Perspektiven, Empfindungen, Haltungen zulassen – niemanden überzeugen wollen, sondern von sich sprechen – für sich einstehen – und in Beziehung bleiben. Wenn ich den Anderen spüre, kann ich ihn respektieren, auch wenn seine Haltung sich von meiner unterscheidet. Indem wir uns als Menschen wohlwollend wahrnehmen und begegnen, entsteht ein Gruppenfeld, das gegenüber extremen, hoch emotionalen Positionierungen resilient macht.
Auf was einigen wir uns? Da wir die Vielfalt pflegen, wird es keine gemeinsamen Tempelhof-Aktionen geben. Aber die, die sich gerufen fühlen, aktiv zu werden, sind getragen in der großen Gemeinschaft.
3. Mai 2020 – Erste öffentliche Versammlung in Dinkelsbühl
Es ist interessant, wie in dieser Zeit des Nichtwissens, in der niemand von uns auf Erfahrungen oder Lösungsansätze zurückgreifen kann, mit einem Mal Gemeinschaftsmitglieder aktiv werden, die bisher nicht so in Erscheinung getreten sind. Mit dem Satz „Ich habe doch nicht eine freie Schule mitgegründet, um jetzt zuzuschauen, wie unsere Grundrechte außer Kraft gesetzt werden“ meldet sich Christine zu Wort. Ihre Initiative führt dazu, dass eine Gruppe von Tempelhofern und Nachbarn unter dem Dach von Mehr Demokratie e.V. den Schritt in die Öffentlichkeit tut – nach Dinkelsbühl auf den Marktplatz. Es reicht nicht mehr, nur zu Hause zu sitzen. Es gilt aufzustehen. Da sie nicht gegen etwas, sondern für die Wiederherstellung unserer Grundrechte, für wirklich lebenswerte Bezüge, für ein wirklich soziales und solidarisches Miteinander eintreten, stellt die Gruppe ihre Aktionen unter das Motto: „Singen und reden für unsere Demokratie“. Am 9.Mai organisiert sie dann eine Aktion in Schwäbisch Hall. Es werden fröhlich-ernste Versammlungen, die diese Gruppe von 25 Menschen zusammen mit rund 400 ZuhörerInnen 1,5 Stunden veranstaltet. Seht selbst: https://youtu.be/wqG1Lp0Lj0U
Am Samstag, 16.5. wird es um 15:00 Uhr eine nächste Versammlung in Crailsheim geben. In Dinkelsbühl machen Einzelne von uns jeden Mai-Samstag eine Mahnwache.
Nun wünschen wir Euch, dass Ihr bei all den persönlichen Umbrüchen und den gleichzeitigen großen Umbrüchen in der Welt nicht die Orientierung und den Mut verliert.
MarieLuise Stiefel, Wolfgang Sechser