Kolumne

In unserer spirituellen Gemeinschaftsarbeit, dem Wir-Prozess, gehen wir und die vielen Gruppen, die wir damit begleiten, durch verschiedene Phasen:

Am Anfang begegnen sich die Menschen praktisch immer höflich bemüht, verliebt in das Geschehen oder die eigenen Wichtigkeit, zurückhaltend oder sich verkaufend – recht pseudoharmonisch.

Nach einer Weile werden die Worte der anderen schal, die Handlungen durchschaubar, alles irgendwie bekannt und störend – das Ich ist nicht mehr bereit, dies mitzutragen, bewertet sich und andere fleißig und lehnt mehr oder weniger heftig ab. Das entstehende lebhafte und trennende Chaos erinnert dann wenigstens an den gewohnten Lebensalltag mit meinen „Lieben“ oder dem bösen Nachbarn – und Gewohnheiten geben ja wenigstens einen Schein von Sicherheit, denn da kenne ich mich dann wenigstens aus. So sehr es mir und anderen auch schadet.

Irgendwann wird auch dieses Mich-Einrichten anstrengend, der Widerstand kostet Kraft, der Körper streikt, und ich fange an, meine eigenen Worte nicht mehr hören zu können. Es wird schwer, zäh und irgendwie hoffnungslos – alles auch schon bekannt aus dem ganz realen Leben. Nur hier im Setting des Prozesses kann ich nicht flüchten in Ablenkung, Konsum oder Vereinzelung. Irgendjemand spricht mich sicher an, durchschaut mich, zeigt sich selbst in seinem Ringen. Und nichts und niemand ist da, der mich rettet – denn es gibt ja keine Anleitung oder einen bestimmten Inhalt, an dem ich mich durch den Workshop hangeln könnte…

Seltsamerweise wird genau an diesen Punkten der Desillusion und gleichzeitigen Erkenntnis, den anderen geht es ja genauso, in einem ehrlichen Sich-Zeigen das vereinzelte Ich plötzlich wach: Wie der frische Morgen nach einem heftigen Sturm – ein Morgen, an dem der Tau fast zu riechen ist und die Stille ein Gesicht bekommt… Und alles irgendwie unwirklich unwissend wird.

… Komisch, denke ich gerade, wie ein Workshop-Setting des WIR-Prozesses den realen Alltag einfach abbildet:

Denn all dies trifft auch auf unsere Gemeinschaft und ihre Entwicklung zu. Im Gegensatz zu der klassischen gesellschaftlichen Welt, in der viele noch immer glauben, sich diesen Prozessen entziehen zu können, oder sich dann eben von den scheinbar so anderen Menschen verabschieden oder einfach Krieg führen, können wir uns in Gemeinschaft selbst nicht entkommen. Wir müssen uns immer wieder im anderen entdecken, in der intensiven, gemeinsamen Arbeit, im Alltag, im Spiel, in der Begegnung… Eben weil wir beschlossen haben, uns selbst und den anderen wirklich zu begegnen, ohne zu wissen, wie das denn wirklich geht. Denn irgendwelche Standardkonzepte oder Theorien helfen uns nicht weiter – was für die Eine hilfreich sein mag, ist für den Anderen oft nicht stimmig.

Was uns zusammenhält ist, dass wir in diesen Momenten des Nicht-Wissens nicht dauerhaft flüchten oder uns auf das zurückziehen, was wir schon kennen. Paradoxerweise verbindet uns gerade das entleerte „Nicht-mehr-wissen-wie-es-geht“ mit einer daraus entstehenden frischen kreativen Nähe. In diesem Zustand werden die Menschen und Dinge relativ und ähnlich – und gleichzeitig in ihrem „Sich-Zeigen-aus-dem-Nichts-heraus“ einzigartig.

Gemeinschaften können so ein wunderbarer Kristallisationspunkt für Bewusstseinsarbeit und spirituelle Entwicklung sein und werden, da wir uns in der täglichen offenen Begegnung nichts vormachen und die Schattenaspekte in uns nicht zudecken können. In unserer künstlich individualisierten Gesellschaft, die doch oft eher eine Anpassungsgesellschaft ist, wird unser Projekt einer bewussten Beziehungs- und Kommunikationskultur in radikaler Vielfalt ein großes Experiment. Darin ist es auch möglich, mit der eigenen Integrität zu experimentieren, sich zu trauen, loszulassen – und persönliche Integrität so neu zu entdecken und zu verankern.

Integrität unterscheidet sich für mich grundsätzlich vom gesellschaftlichen Individualismus, der nur eine andere Seite von kindlicher Anpassung in einer unreifen Kultur bedeutet. Je mehr Menschen zu ihrer ureigenen Integrität und Kreativität finden, desto kraftvoller ist auch wieder eine Kooperation zwischen ihnen möglich, die aus einer zugewandten Menschlichkeit zwischen sich selbst-bewussten Menschen wächst. Diese einfache, offene, transparente Menschlichkeit zeichnet Gemeinschaften bestenfalls aus – und die Fähigkeit der Einzelnen hinzufallen, wieder aufzustehen, das Krönchen zu recht rücken und weiter zu gehen… Dran bleiben!

Und auch wenn sich diese Integritäts- und Kooperationsentwicklung in Lebens- und Arbeitsgemeinschaften vermutlich unmittelbarer einstellen kann: Sich selbst stellen und dem anderen wirklich begegnen ist in jeder Form von Gemeinschaft möglich. Mit Freunden, in der Arbeit, in der Familie und mit meinen Nachbarn.

Unerreichbar? Welche Interessen unserer Kultur und unserer erlernten Haltungen möchten uns davon abhalten wirklich in die Welt hinein zu leben? Ganz und miteinander…


Wolfgang

Näheres unter WIR-Prozess und GIP.

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