Als vor einiger Zeit 4 junge Menschen im Sozialforum gemeinsam über ihre Zeit in unserer Gemeinschaft reflektierten, entstand die Idee, ihre Erfahrungen über den Newsletter einem größeren Kreis zugänglich zu machen. Die Vier zeichnen ein Bild vom Tempelhof als umfassende Lebensschule. Das Interview ist ein längerer Text geworden.
Lya-Marie (20) und Klara (23) machen beide ein Freiwilliges Ökologisches Jahr, Anke (28) und Moritz (26) sind im Rahmen eines Gemeinschaftserfahrungsjahres hier.
Klara und Lya-Marie wohnten die ersten 7 Monate in einer WG mit drei Mitgliedern der Gemeinschaft, darunter ein 75jähriger Genosse. Später ergab sich räumlich die Möglichkeit, eine Junge-Leute-WG zu bilden. Hier leben sie nun zusammen mit einer jungen Frau, die in der Landwirtschaft ein Praktikum macht und einem Azubi der Landwirtschaft. Anke bewohnt aktuell mit ihrem Freund ein Tiny-Haus am Tempelfeld (um das Earthship herum), dies ist seit ihrem Hiersein ihre fünfte Wohnvariante. Moritz bewohnt ein Zimmer in der Wohnung einer 5köpfigen Familie, in der sich die Eltern schon länger getrennt haben und in der Betreuung ihrer Kinder abwechseln.
Was war die Motivation, in die Gemeinschaft Tempelhof zu kommen?
Klara
Ich bin einige Jahre viel herum gereist, durfte neue Menschen und Kulturen kennenlernen und habe mich viel mit Fragen beschäftigt, wer bin ich, wie möchte ich wirken und wie trage ich zu einem nachhaltigen Leben auf der Erde bei? Dann kam der Wunsch auf, in einer Gemeinschaft zu leben. Davon träumte ich schon während meiner Jugend – von einem einfachen, naturnahen Leben ohne Stress und mit viel Raum zur Selbstentfaltung.
Lya-Marie
Ich bin hier hin gekommen, um gleichgesinnte Menschen zu treffen, um ökologischer zu leben und um heraus zu finden, was ich eigentlich im Leben machen will und ob Gärtnerberuf für mich das richtige ist. Ich suche einen Weg, mein Leben anders zu leben als das „normale“, das ich aus der Stadt kenne. Ich suche Alternativen in jeglicher Hinsicht.
Moritz
Im Studium (Politik und Soziologie) habe ich mich intensiv mit gesellschaftlichen Fragen auseinander gesetzt und viele Menschen getroffen, welche die Welt verändern wollen. Mich hat zunehmend frustriert, wie häufig Forderungen an andere gestellt werden und wie häufig Menschen eigentlich dasselbe meinen und fühlen, sich aber mehr auf Herausstellung von Unterschieden als auf Gemeinsamkeiten konzentrieren. Vielen ist bewusst, dass sich etwas ändern muss, aber sie bleiben im Alltag der Großstadt stecken und resignieren. Ich kam zu dem Punkt, dass ich die Welt nur ändern kann, indem ich andere Menschen mit meinem Vorbild inspiriere und nicht mit erhobenem Zeigefinger. Ich kam zu dem Schluss, dass die Wiederbesinnung auf Gemeinschaften, autarke Versorgung und eine andere Bildung der Schlüssel für Veränderung sind und so war es für mich an der Zeit, im Gemeinschaftsleben praktische Erfahrungen zu sammeln.
Anke
Wie vieles in meinem Leben hat es sich so ergeben und richtig angefühlt. Ein Jahresseminar, in dem es um eine andere Lernkultur geht, hat mich in unterschiedliche Gemeinschaften geführt, u.a. zum Tempelhof. Hier lernte ich dann meinen Freund kennen, der hier schon in einem Bauwagen lebte. Da ich ziemlich frei war in meiner damaligen Lebenslage, entschloss ich mich, hierher zu ziehen. Um meine Beziehung zu leben und gleichzeitig Gemeinschaftsleben zu erfahren.
Was sind deine wichtigsten Erfahrungen und Einsichten? Über dich? Über das Zusammenleben in Gemeinschaft?
Lya-Marie
Bevor ich hierher kam, war mir nicht bewusst, wie wichtig und wertvoll Kommunikation ist und sein kann. Und auf wie viel verschiedenen Wegen diese gestaltet werden kann. Zudem finde ich die gelebte Demokratie hier so spannend. Jeder wird als individueller Mensch wahrgenommen und berücksichtigt. Für mich ganz persönlich habe ich herausgefunden, dass ich nicht in erster Linie im sozialen Bereich, mit Menschen, arbeiten möchte. Mich hat das Interesse an der Natur und am Gärtnern total gepackt.
Und ich habe erfahren, wo ich noch viel zu lernen habe im Umgang mit anderen Menschen, um in so einer Gemeinschaft leben zu können.
Klara
Für mich ist das Thema Nähe und Distanz von großer Bedeutung. Ich übe täglich, auf meine innere Stimme zu hören und zu schauen, was mir gerade gut tut. Das tägliche Zusammensein mit Menschen – am Vormittag mit den Kindern in der Schule, das Mittagessen mit der Gemeinschaft, am Nachmittag mit Gasthelfern in der Landwirtschaft und abends in meiner WG, ist immer wieder eine Herausforderung für mich. Da lerne ich immer mehr, mir Grenzen zu setzen und mir auch meinen Freiraum zu schaffen. Das fällt mir nicht immer leicht und erfordert viel Kraft. Doch mit der Zeit gelingt es immer besser. Ich finde oftmals Ruhe in der Natur. Ich möchte in Zukunft gerne noch naturverbundender leben. Ich brauche nicht mehr so viele Menschen und Ablenkungen um mich herum und möchte ein sehr einfaches Leben führen. Mir ist wichtig, zuerst an mir selbst zu arbeiten, bevor ich raus gehe in die Welt und Dinge verändern möchte.
Anke
Da kann ich mich anschließen. Ich brauche mehr Rückzug als ich anfangs annahm. Damit ich gut in Gemeinschaft und in Kontakt mit Menschen hier sein kann, ist es wichtig, dass ich im Kontakt mit mir bin, meine Bedürfnisse und Grenzen wahrnehme und idealerweise auch für sie einstehe. Das lerne ich hier gerade. In Gemeinschaft zu leben, ist auf der einen Seite sehr nährend, schön und verbindend und auf der anderen Seite sehr anstrengend. Es ist für mich eine Herausforderung, all die unterschiedlichen Gebiete des Lebens in Gemeinschaft unter einen Hut zu bringen. Wie viel Energie habe ich persönlich zur Verfügung und in welche Projekte, welche Beziehungen, welche Arbeiten möchte ich sie stecken? Das ist für mich immer noch ein Ausprobieren.
Moritz
Ich habe noch einige persönliche Themen zu bearbeiten, welche ich in meinem Studium verdrängt habe, indem ich mich lieber mit äußeren Geschehnissen beschäftigt habe. In Gemeinschaft ist es leichter, mit sich selber in Berührung zu kommen oder – anders herum gesagt- schwieriger, sich von sich selber abzulenken, weil man immer wieder auf sich selbst zurück geworfen wird.
Mit der passenden Gemeinschaft kann man leichter alte Gewohnheiten ablegen und sich vom positiven „Spirit“ seiner Mitmenschen anstecken lassen. Im Umfeld der Großstadt, aus der ich komme, war ich resigniert und habe mich alleine und mit meinen Absichten isoliert gefühlt. Hier habe ich nun viel mehr Energie, meine eigene Veränderung voranzutreiben, weil die Gemeinschaft ehrliches Interesse zeigt und mir Andere mit Vorbild vorausgehen.
Wofür bist du dankbar?
Anke
Für die Fülle an Möglichkeiten und Begegnungen – es gibt hier Menschen, mit denen ich wohl in einem anderen Kontext nicht in Kontakt gekommen wäre. Für die Erfahrung des naturnahen Wohnens im Tinyhouse. Für das soziale Miteinander, das gemeinsame Ringen, die sozialen Räume und Seminare (WIR-Prozess, Forumsarbeit, Intensivzeiten). Für alles, was in der äußeren Struktur schon da ist, wie Carsharing, Gewandthaus/Schatzkammer, das leckere Gemüse und Essen. Und dafür, dass sich vieles einfach spontan ergibt. So habe ich hier Jin Shin Jyutsu kennen gelernt und dies wurden dann auch Thema meiner Diplomarbeit.
Moritz
Für meinen Mut, Köln endlich zu verlassen, weiter zu ziehen und mich neuen praktischen Erfahrungen auszusetzen. Für mein Durchhaltevermögen und meine Unbeirrbarkeit, dem zu folgen, was sich für mich richtig anfühlt. Dass es bereits Orte wie den Tempelhof gibt. Orte, an denen man einen anderen Zeitgeist leben kann.
Lya-Marie
Dass ich diese Erfahrung überhaupt machen darf. Es ist ein super Lebensorientierungsjahr. Ich kann mich in so vielen Arbeitsfeldern und Bereichen ausprobieren und erforschen! Ich kann immer ganz klar sagen, wie es mir geht und was ich nicht mag oder mir nicht so gut gefällt und es ist immer die Bereitschaft da, die Situationen so für mich zu verändern, dass ich mich wieder wohlfühle und es mir gut geht bei meinen Tätigkeiten.
Klara
Ich bin hier für sehr vieles sehr dankbar! Was mich sehr berührt, ist die Art und Weise, wie hier miteinander kommuniziert und gelebt wird. Wir sind hier alle auf Augenhöhe und dürfen uns mit unseren Bedürfnissen und Gefühlen zeigen. Ich fühle mich als Teil des Ganzen und kann somit auch besser in Verbindung gehen mit meinen Mitmenschen. Außerdem bin ich sehr dankbar für das tolle Essen und die Produktion und den Umgang mit den Pflanzen und unseren Nahrungsmitteln.
Was war schwierig für dich?
Klara
Am Anfang war es ungewohnt und neu für mich, dass ich mich so offen zeigen durfte, wie ich mich fühlte. Doch ich wuchs immer mehr mit meinen Aufgaben und habe schnell gelernt, mich zu melden, wenn ich mit einer Sache Schwierigkeiten hatte. Der Winter, die dunklen und kalten Tage waren für mich teilweise sehr energielos. Da vermisste ich enge Kontakte. Manchmal fühlte ich mich sehr einsam, obwohl ich doch unter so vielen Menschen war. Doch so konnte ich mich auch mehr mit mir selbst beschäftigen und daraus lernen.
Anke
Schwierig war für mich das verbindliche Festlegen des Arbeitens im Cateringteam im letzten Jahr, in Verbindung mit meinen freiberuflichen Projekten. Klingt erst mal sehr banal, aber es hat deswegen vor allem im sozialen Miteinander sehr viel Reibung gegeben. Auch sehr schwierig für mich war die Behandlung meiner Anträge in den Plenen, als es um meinen Aufenthalt und das Wohnen hier am Platz ging. Einerseits die Themen zu fühlen, die dabei in mir getriggert wurden und anderseits zu verstehen, dass nicht alles, was gesprochen wurde, mit mir persönlich zu tun hatte. Es war auch schwierig für mich, mir zu erlauben, nicht bei allem dabei zu sein (Plenen, Sozialforum, Impulsabende…) und mich trotzdem gut zu fühlen
Und meine Gemeinschaftsstunden zu machen, wenn ich manchmal überhaupt keine Motivation dazu hatte.
Moritz
Ich musste lernen, Konflikte auszuhalten, mich gefühlt nicht ausnutzen zulassen, für meine Bedürfnisse einzustehen oder meine Haltung zu ändern. Probleme als Herausforderungen zu sehen, an denen man innerlich wachsen kann. Mich so zu akzeptieren, wie ich bin und mir die Zeit zunehmen, zu verarbeiten. Geduldig mit mir selber zu sein und mich nicht von anderen unter Druck setzen zu lassen. Ich bin sehr froh, dies alles erlebt und dazu gelernt zu haben.
Lya-Marie
Schwierig war für mich, vor allem zu Beginn, zu lernen „nein“ zu sagen. Es gibt immer Arbeit und viele interessante Dinge zu tun. Überall kann man was machen und die Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt. Ich musste sehr lernen, zu schauen, wie viel kann ich wirklich tun und wo brauche ich Raum für mich selbst.
Wenn du ein Résumé über deine bisherige Zeit am Tempelhof ziehst, was ist die Essenz für dich?
Moritz
Wenn ich etwas fürchte, wird es meistens passieren, damit ich lernen kann, mich meinen Ängsten zu stellen. Wenn ich entschleunige und aufhöre, alles nur durch kognitives Planen und meinen Willen erreichen zu wollen, wenn ich statt dessen Klarheit und Vertrauen in mir stärke, dann kommt der „Flow“ und alles kommt fast wie von selbst.
Anke
Es ist super wichtig, das ich achtsam mit mir bin und meine Grenzen wahre. Und: Jeder vermeintliche Konflikt kann durch einen Austausch/ ein Gespräch geklärt werde. Ich muss nur mutig sein zu fühlen und dann den ersten Schritt zu gehen.
Klara
Mir ist sehr wichtig geworden, auf meine Gefühle zu hören und alles anzusprechen, was in mir hoch kommt. Nur durch das Äußern von Bedürfnissen können meine Themen bearbeitet werden. Ich beschäftige mich nun viel mehr mit der Frage „Wie“ möchte ich leben, anstelle von „Was“ möchte ich machen.
Lya-Marie
Ich sehe eine so große Sinnhaftigkeit darin, in Gemeinschaft zu leben. Es war mir vorher gar nicht so bewusst, was Gemeinschaftsleben eigentlich bedeutet. Nun kann ich mir kaum noch vorstellen, anders zu wohnen.
Was, glaubst du, sind gute persönliche Voraussetzungen für einen jungen Menschen, um eine produktive Zeit hier am Tempelhof zu haben?
Moritz
Bereitschaft, sich mit sich selber auseinander zu setzen. Den Wunsch zu haben, zu lernen und mit Menschen zusammen zu arbeiten. Offen zu sein für Möglichkeiten und Erfahrungen, mit denen man nicht von Anfang gerechnet hat.
Klara
Ja, es ist wichtig, bereit und offen zu sein für Themen, die in einem hoch kommen können und es braucht innere Stärke, für sich einzustehen. Du solltest Lust haben, gemeinschaftlich zu denken und handeln. Und es ist besonders wertvoll, „einfach“ gelassen zu sein und immer wieder offen dafür, etwas Neues zu lernen.
Lya-Marie
Offenheit, auf die Menschen zu zugehen und Mut, das zu sagen was du denkst. Du solltest bereit sein, tief an dir zu arbeiten und alles Mögliche zu hinterfragen. Ich würde allen, die suchend sind, die vielleicht das Gefühl haben, sie passen nicht so ganz in die Gesellschaft, einen längeren Aufenthalt in unserer Gemeinschaft empfehlen.
Anke
Ich sollte Lust haben, mich einzubringen und Lust, mich mit mir selber auseinander zu setzen.
Interview: MarieLuise Stiefel