Ein Essay.
Aus einer Generation kommend, die von „Nie wieder Krieg“ und der Friedensbewegung in den 1980er Jahren geprägt ist, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass es in meinem Land einmal wieder um Kriegsertüchtigung gehen würde: „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“ (Boris Pistorius im letzten Jahr).
Ich bleibe mir treu
Nein, diesen geforderten Mentalitätswechsel bin ich nicht bereit, mitzumachen. Ich will mich an den Gedanken nicht gewöhnen, dass Krieg und die militärische Logik von Aufrüstung und Abschreckung das Mittel der Wahl sein sollen, um dauerhaft Frieden zu erreichen. Ja, die Weltlage ist zunehmend hochexplosiv. Jedoch in sich zuspitzenden Krisenzeiten wieder in alte militärische Denkmuster zurückzufallen, die noch nie zu dauerhaftem Frieden geführt haben, halte ich nicht für Fortschritt. Fortschritt wäre, wir würden mutig diese Logik überwinden und unsere Friedfertigkeit kultivieren. Ich glaube, dass wir Menschen im tiefsten Grunde friedensfähig sind. Dass das Überleben der Menschheit davon abhängt, ob es uns gelingt, diese Friedensfähigkeit zu ent-wickeln. Ob es uns gelingt, den Gedanken überhaupt zu denken, gewaltlose Konfliktlösungen seien möglich und machbar. Um dann entschieden solche Wege zu entwickeln und zu erproben.
Ich bin so vermessen, weiterhin meiner Sehnsucht nach Frieden treu zu sein – mich ihr nicht zu verschließen oder sie als romantisch oder naiv abzutun und so in mir abzuspalten. Ich bleibe ihr auch treu, weil sie in mir das Mitgefühl mit den Opfern der Kriege wachhält und verhindert, dass ich mich in Gleichgültigkeit rette, um den Schmerz zu vermeiden. Täte ich dies nicht, läge ich im Krieg mit mir selbst.
Ich bin froh, dass ich in meiner Gemeinschaft damit nicht alleine bin.
Gemeinschaft – ein Praxisort für Frieden
In unserer letzten Intensivzeit, im Juli, als es um unsere innere Ausrichtung für die kommenden Jahre ging (s. Bericht zuvor) , hatten ja drei Qualitäten die allermeiste Kraft: Wir wollen ein Ort des Friedens sein, wir wollen lernen, traumainformiert miteinander umzugehen und wir üben, aus der Perspektive von Allverbundenheit zu denken und zu handeln.
Diese drei Qualitäten hängen zusammen, das erfahren wir in unserem engen Zusammenleben und -arbeiten. Wir sind konfrontiert mit individuellen und kollektiven Mustern, Traumata und entsprechenden Schutzstrategien, die uns in Abwertung, in Streit, in Trennung und Spaltung bringen; durchschauen allmählich die Wirkmechanismen und üben, sie zu vermeiden. Leben in Gemeinschaft kann, wenn man sich diesen Mühen stellt, eine permanente Einübung von Friedenstüchtigkeit sein.
„Der erste Friede beginnt in mir. Der zweite Friede, beginnt mit dir. Der dritte Friede ist der in der Welt. Der ohne den ersten niemals hält“. Im Wissen um diese in ein Friedenslied gefasste indigene Weisheit arbeiten wir an einer Praxis des Miteinanders, die uns hilft, trennende und spaltende Gewohnheiten zu erkennen und zu überwinden bzw. zu heilen und Lösungen zu finden, die keine Verlierer zur Folge haben. „Laboratorium für Abrüstung“ nennt Scott Peck den WIR-Prozess. Ich meine, Leben in Gemeinschaft bedeutet ständige Abrüstung, eine ständige Suche nach einem gewaltlosen Umgang mit kontroversen Einstellungen, Sichtweisen, Interessen. Ohne dieses Bemühen würden wir 90 Genossen zu keinen Entscheidungen kommen können.
Zukunftswerkstatt „Wie werden wir friedensfähig?“
Jedes Jahr bieten wir am ersten Wochenende im Oktober eine temporäre Zukunftswerkstatt an. Anhand von aktuellen gesellschaftlich relevanten Themen wollen wir beleuchten, welche Erfahrungen aus unserem Reallabor für die größere Gesellschaft dienlich oder inspirierend sein können. Wir forschen gemeinsam an zukunftsweisenden Veränderungsmöglichkeiten. Der Ort Tempelhof bildet mit seinem bewusst gewebten Feld der Gemeinschaft Nährboden und Inspirationsquelle für die Veranstaltung. Dadurch wird Neues denken, neu Denken und Vertrauen in neue Wege unterstützt. Wir wollen mit Kreativität und Zuversicht Samen setzen für eine lebenswerte Zukunft aller Generationen.
Im Angesicht der weltweiten Kriegsertüchtigung und den unendlich viel Leid erzeugenden Kriegen, nicht nur in der Ukraine und in Nahost, haben wir dieses Jahr das Thema „Wie werden wir friedensfähig?“ gewählt.
Wir gestalten die Zukunftswerkstatt als temporären Praxisort für Frieden, in dem wir an unserer persönlichen Friedensfähigkeit forschen und sie weiterentwickeln. Gemäß dem Motto: „Sei der Friede, den du in der Welt sehen möchtest“.
Stell dir vor, wir werden immer mehr Menschen, die den Frieden verkörpern – wie sähe die Welt, im Kleinen wie im Großen, dann aus?
Näheres unter: https://booking.seminardesk.de/de/schloss-tempelhof/7824600985344633ad676b5553091f64/zukunftswerkstatt-wie-werden-wir-friedensfahig
MarieLuise Stiefel