Unser erster Todesfall. Erfahrungsberichte
Neben allem Herausfordernden, was Krankheit, Sterben und Tod für nahe Freunde und Angehörige bedeutet, haben wir, die engere Gruppe um Werner in diesem Lebensabschnitt, auch viel Positives erlebt. Wir finden, dass wir die Herausforderungen gut gemeistert haben. Für uns alle war diese Situation neu, der Anfängergeist war also natürlicherweise da. Was sonst hat getragen?
Zwei von uns berichten aus dieser Zeit, vor allem mit dem Fokus darauf, was Gemeinschaft in dieser Zeit für sie bedeutete: Johanna, die mit Werners Sohn Nico und den gemeinsamen Kindern Nora und Ilja am Tempelhof lebt und Ute aus Köln, seine letzte Partnerin.
„Wir“ – dazu gehören neben Johanna, Nico und Ute noch Gabriele, Werners langjährige Partnern, Maria und Jonas, zwei seiner kunstsinnigen Tempelhofer Freunde und MaLu, seine Kollegin aus der WIR-Prozessarbeit.
Außer uns 7 waren es neben seinen Künstlerfreunden noch rund ein Dutzend TempelhoferInnen, die sich im Krankenhaus um ihn gekümmert oder ihn besucht haben. Wir danken der Kasseler Kommune Villa Locomuna dafür, dass sie uns ihr Gastzimmer in all den Wochen zur Verfügung gestellt hat. Selbst beim Herbsttreffen von GEN-Deutschland, das nicht weit vom Kasseler Krankenhaus stattgefunden hatte, wurde an Werner gedacht.
Meine Gedanken zum Geschehen um Werner
Bericht von Johanna
Uns als Familie hat dieses Jahr 2017 auf besondere Weise betroffen. Nachdem im Juli sein jüngstes Enkelkind Ilja geboren wurde, wurde Werner am Geburtstag seines ersten Enkelkindes Nora zum ersten Mal operiert. Die folgenden Tage und Wochen und Monate wurden für uns zu einer herausfordernden Zeit.
Die Gemeinschaft hat meine, Nicos und Utes Schultern erleichtert, dadurch, dass einzelne Menschen große Teile der Besuche bei Werner übernommen haben. Zu Anfang hat Nico die Besuche noch koordiniert und wir haben zusammen die Infomails ins Dorf geschrieben, dann hat das aber beides Malu übernommen und Nico so merklich entlastet. Es hat gut getan, diese Verantwortung für Werners Wohl aus der engen Familie in einen engeren Gemeinschaftskreis zu geben.
Neben dieser tatkräftigen Unterstützung hat die Gemeinschaft auch Geld gesammelt, welches die Besuche bei Werner möglich gemacht hat. Es sollte nicht am Geld scheitern, dass Werner Besuch erhält, von Menschen, die gerne bei ihm sein wollten. Dieser Spendentopf hat sich gut gefüllt und konnte unsere Familie und auch Utes intensive Begleitung gut unterstützen.
Ich hatte phasenweise Menschen, die mir meine Wäsche gewaschen haben, sich mal um den Abwasch gekümmert haben, mir beim ins Bett bringen der Kinder geholfen haben, sich gesorgt haben, dass mir im Alltagsgeschehen mit den Kindern nichts fehlt. Das mag banal klingen, doch mit unserem neuen Erdenbürger und unserem 4-jährigen Löwenmädchen ist der Alltag auch ohne die emotionale Belastung schon herausfordernd.
Für mich sehr bedeutend war dieser enge Kreis von 7 Menschen um Werner, der nach seinem Tod da war, um das zu regeln, was zu tun war. Hier haben wir in unseren Runden immer erst die Befindlichkeiten abgeholt, bevor wir zur organisatorischen Ebene gekommen sind. Das hat gut getan, immer wieder anzudocken in dieser kleinen Gemeinschaft. Die Art wie diese Gruppe erspürt hat, was nun stimmig ist, war wohltuend. Ideen von gestern konnten am Tag drauf nicht mehr passen, und erstaunlich war es, dass wir alle dasselbe Gefühl hatten, wann die Aufbahrung von Werner beendet sein sollte. Für mich hat sich in dieser Zeit die Qualität unserer Gemeinschaft gezeigt, als würde die Praxis des Wir-Prozess und der Gemeinschaftsbildung Früchte tragen.
Wir waren als Familie nicht allein mit Werners Tod, im Gegenteil. Und ich bin zutiefst dankbar dafür.
Füreinander sorgen
Bericht von Ute
In meinen Erfahrungen der 4 Monate im Geschehen um Werner’s Krankheit und Sterben wäre mein Zustand jetzt vermutlich ein ganz anderer – wenn es Tempelhof und die Gemeinschaft, an der ich nochmal ganz anders teilhaben durfte, nicht gäbe.
Gemeinsam mit einigen Tempelhofern konnten wir zusammen vor Ort im Klinikum Kassel einen schützende Raum um Werner kreieren und diesen bis zum Ende energetisch halten – er war spürbar eingebettet in einen größeren Raum, der von der Gemeinschaft und Freunden getragen wurde.
Für mich, die ich in den ersten Wochen nonstop bei ihm war, war es von unschätzbarem Wert, dass mich andere im Blick hatten und mir Feedback gaben. Besonders da ich dabei war, mich in der Situation zu sehr zu verausgaben. Dass da jemand von Tempelhof extra für mich kommt, für mich da ist, wie Maria (ich weiß nicht wie viele Stunden ich weinend, den Kopf in ihrem Schoß auf Parkbänken gelegen habe) und Malu (mit der ich über Monate Werner und dessen körperlichen und mentalen Zustand analysiert habe), empfand ich als große Wertschätzung und das war für mich eine völlig neue Erfahrung.
Dadurch, dass Jonas, Malu, Maria und Nico auch jeweils immer mehrere Tage am Stück bei Werner waren, konnten wir ganz anders Dinge gemeinsam einschätzen und Entscheidungen treffen. Gemäß der All-Leadership taten alle Beteiligten das, worin ihre Kompetenzen lagen und wozu sie den Impuls hatten. Heraus kam eine rundum gute Betreuung.
Werners Zimmer 5 auf der Station 3a in der Klinik Kassel war so etwas wie ein ‚Gemeinschaftskunstwerk’ (im besten sozialsten Sinne), von den Bildern der Kollegen, die sie an die Krankenhauswände gehämmert hatten, bis zu den zig Sorten Wasser, Tees und Säften in allen Varianten von uns aus dem nahegelegenen Bioladen denn’s importiert. Und wenn Werner frische Hühnersuppe wollte, dann funktionierte das Netzwerk auch da und sie war meistens innerhalb von 24 Stunden bei ihm.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Werners Identität. Nur allzu groß ist die Gefahr, dass ein Patient, dessen körperlicher Zustand sich so drastisch verändert, das Gefühl für sich selbst verliert. Werner hatte das, so mein Eindruck, verhältnismäßig wenig. Durch unsere Anwesenheit spiegelten wir ihm, wer er ist. Wenn ein Mensch, in dem Fall Werner, kaum noch etwas selbst tun kann, waren wir wie seine erweiterten Organe, so dass scheinbar ‚kleine Details’, die in einer solchen Situation jedoch die Welt bedeuten können (wie zum Beispiel seinen geliebten Tee für ihn kochen), seine Lebensfreude und Selbstwirksamkeit ein Stück weit aufrecht erhalten konnten. Und er hatte immer Gesprächspartner, mit denen er authentisch sprechen konnte.
Unser Wirken beeindruckte auch das Klinik-Personal. Es wurden uns Dinge erlaubt, die weit über das normale Maß hinaus gingen. Am Ende sagte mir Werners Chirurg, der alles Erdenkliche für ihn getan hat, dass, wenn er selbst eines Tages sterben würde, er es sich auch so wünschen würde wie es um Werner herum geschehen ist…
Von der Gemeinschaft fühlte ich mich in meinem Sorgen um Werner unterstützt, und das bis in den Sterbeprozess hinein. Gemeinschaft bedeutet für mich am Ende auch Zeugenschaft, so dass ich mich im Gespräch mit anderen vergewissern kann, dass Dinge wirklich geschehen sind. Auch erfahre ich dabei die Perspektiven und Einschätzungen anderer, nehme Anteil an ihren Erlebnissen mit Werner, kann meine Fragen und Nöte zum Ausdruck bringen – und überhaupt findet in der Kommunikation ein wertvoller Verarbeitungs-Prozess statt.
Ich glaube, es ist uns allen zusammen gelungen, eine für Werner unerträgliche Situation, so erträglich wie möglich zu machen und seinem Leben durch unsere Achtsamkeit, Wärme und tatkräftiges (auch körperliches) Tun die größt mögliche Qualität zu geben.
Werner hat mir einmal im Oktober 2017 aus der Klinik geschrieben, dass er sich unendlich geliebt fühle… Ich lese dies heute, nach seinem Tod, als etwas Überpersönliches, an dem wir alle persönlich Anteil hatten.