„Liebe Malu, falls du über die Intensivtage schreibst: mir ist beim Aufräumen ein Zitat in die Hände gefallen, was für mich die Tage auf den Punkt bringt:„Heilung geschieht, wenn Liebe unsere Schatten berührt“… und das ganze kollektiv.“ Martina
OK, spätestens seit dieser Mail von Martina bin ich entschlossen, etwas zur Intensivzeit zu schreiben. Ich möchte diese jährlichen Intensivtage nicht missen und Jahr für Jahr sind sie besser, intensiver, noch verbindender.
Ich habe früher viel mit Großgruppen gearbeitet, aber nirgendwo habe ich so eine konzentrierte, achtsame Atmosphäre erlebt wie in den fünfeinhalb Tagen unserer diesjährigen Winterintensivzeit – in der Einzelarbeit, in Kleingruppen oder in der großen Runde mit 60 – 70 Menschen.
Intensivzeiten sind Klausurtage, an denen Genossen und Annäherer sich mit Themen der Gesamtgemeinschaft befassen. Unterm Jahr sind es 2-3 Wochenenden mit thematischen Schwerpunkten (Ökologie, Ökonomie oder was sich aus unserer inneren Dynamik an Thema ergibt). Im Winter, immer um die Jahreswende herum, geht es darum, den Boden für das kommende Jahr zu bereiten.
Dies war jetzt die achte Winterintensivzeit, seit wir uns am Tempelhof angesiedelt haben. Zu Beginn jeden Tages sind die Kinder dabei – wir singen zusammen und das kann dann auch mal „Oh Tannenbaum…“ am 3. Januar sein. Danach gehen die Kinder ihre eigenen Wege – dieses Jahr betreut von Leander und Henrike, unseren beiden FÖJlern.
Nachdem mit einem Ritual die Intensivzeit eröffnet und wir in einer geführten Meditation bei uns und im Raum angekommen sind, beginnen wir mit einem Rückblick auf 2017 bzw. das erste Jahrsiebt unserer Gemeinschaft. Wir bilden Dreier-Gruppen mit Leuten, mit denen wir sonst nicht so viel zu tun haben. Drei Fragen: Meine Höhepunkte/Glückmomente, wo hängt noch schwierige Energie fest (Groll, Enttäuschung, Schmerz, Wut…) und gibt es so etwas wie Schlacken im Untergrund – Aspekte, wo ich resigniert habe?
Von da aus geht es im nächsten Schritt weiter zu einer Art Inventur: „Was ist meine Verantwortung dafür, dass es so war wie es war?“ Dafür suchen wir uns jetzt einen Menschen, zu dem wir Vertrauen haben. Ein jeder schreibt 30 Minuten auf, was ihm dazu einfällt, erzählt 5 Minuten seinem Gegenüber, erhält vom diesem ein Feedback, hört danach 5 Minuten dem Gegenüber zu und gibt Feedback. Danach dasselbe noch einmal. Eine Superübung. Obwohl ich viel über mich nachdenke, bin ich mir neu auf die Spur gekommen. Zum Beispiel wurde mir bewusst, dass es in mir eine Art „Verletzungsstau“ gibt. Ich habe in den 7 Jahren Tempelhof Verletzungen bzw. meine Verletzbarkeit oft zur Seite geschoben, weil mir die Sache viel wichtiger war. Die so angesammelte „Schlacke“ ließ mich häufig innere Gespräche führen, in denen ich mit Jemandem haderte. Das hat mich immer gewundert – wo ich doch so gerne hier lebe. Seit mir die Wurzel dieses Haderns bewusst ist, hat es aufgehört (jedenfalls bis heute, 12 Tage danach).
„Boah, ich habe nicht gewusst, auf was ich mich da eingelassen habe mit meiner Entscheidung für Tempelhof! Ich habe noch nie so viel für die Tonne gearbeitet wie hier. Aber das macht nichts- es geht um etwas anderes: Mich voll und ganz einlassen, verletzbar werden. Darum bin ich hier.“ Rainer K.
Zurück im Plenum mit den über 60 Menschen ist der Raum offen, von seinen Erfahrungen zu sprechen – eine Gelegenheit, von Anderen etwas zu erfahren, was ich noch nicht weiß. HörRaum geben – darin sind wir inzwischen geübt. Erste ungeklärte Konflikte zeigen sich. Wahrhaftige Augenblicke von Liebe ebenso. So geht es auch nach dem Abendessen weiter. Jetzt und am nächsten Vormittag entsteht mehr und mehr ein Raum, in dem Einzelne sich ganz authentisch zeigen, verletzbar werden. Berühren und berührbar sein – darum geht es.
„Mit meiner Gemeinschaft ein gemeinsames Feld zu erzeugen, welches auf Vielfalt beruht, ist meine schönste spirituelle Übung.“ Angelika
Jeder Morgen beginnt mit der Frage: Gibt es noch etwas vom Vortag? Was hat weitergearbeitet? Es entstehen offene Räume, in denen sich allmählich die Themen, die aktuell wirksam sind, die „Untergrundthemen“, ihren Weg bahnen. In diesen offenen Räumen hat alles seinen Platz – Träume aus der Nacht, der Hilferuf wegen eines eskalierenden Konfliktes, „So erlebe ich mich in meiner Gemeinschaft und dies oder jedes bedeutet sie für mich“, „Dies habe ich erlebt und deswegen ist meine Leitfrage für das kommende Jahr…..“. Dies ist eine Phase, die für manche wegen der Fülle unterschiedlichster Themen, der verschiedenen Ebenen und der Intensität des Berührens und Berührtwerdens schwer auszuhalten ist.
Es kristallisieren sich Schwerpunkte heraus, die in Kleingruppen vertieft und dann ins Plenum zurückgespeist werden. Zwischendurch gibt es immer wieder mal gemeinsames Singen und – gaaaanz wichtig – Pausen mit Obst und süßen Leckereien, in denen das Umsorgt sein zu spüren ist, welches uns von der Küche und den Pausenverantwortlichen entgegenkommt.
Im weiteren Verlauf der Tage geht es von der individuellen Betrachtung auf die gemeinschaftliche Ebene. Je mehr wir Konflikten ihren Raum geben durch Anerkennen „Ja, es gibt sie“, desto gelöster und heiterer wird die Stimmung.
Überhaupt Witz und Humor – Ein Vorschlag zum Umgang mit Konflikten war: Sobald zwei einen Konflikt haben, zelebrieren sie diesen: Sie brüllen sich an, wenn sie sich auf dem Tempelhof begegnen, bedanken sich und gehen dann weiter ihres Weges. Bitte wundert euch nicht, wenn ihr eines Tages zu Besuch seid….
„Unabhängig von meiner durchaus vorhandenen Kritik am Projekt Tempelhof hat diese Woche aus gemeinsam Leben, Denken und Fühlen, aus Sprechen und Zuhören einen Zauber bewirkt: Wir haben uns in unserer großen, facettenreichen Unterschiedlichkeit wahrnehmen können. Haben gestritten, Ängste und Abgründe angeschaut: unser Scheitern gesehen. Haben uns vielleicht auch an manchen Stellen neue Verletzungen zugefügt. Aber für mich haben wir dadurch wieder dieses „Wir“ entstehen lassen.“ Ben H.
Am Ende der Intensivtage gehen wir anders in das neue Jahr als wir das alte beendet haben.
Konflikte sind geklärt oder es ist vereinbart, wie und wann dies stattfinden wird. Themen, die unsere innere Gemeinschaftsentwicklung betreffen, liegen auf dem Tisch, sie werden weiterverfolgt, ohne dass es dazu formale Abstimmungen gebraucht hätte. Entweder gab es so etwas wie einen gefühlten Konsens – oder Jemand hat einfach die Verantwortung dafür übernommen.
Ein Ritual beendete die gemeinsame Zeit. Die Kerze, die zu Beginn der Tage unter Anrufung der Unterstützung durch die 4 Elemente Himmel, Erde, Luft und Wasser entzündet wurde und uns Stunde um Stunde begleitet hatte, wird gelöscht.
Und dann: Riesenapplaus für das 7-köpfige Raumhalterteam und ein Korb voller Dankes-Überraschungen.
Resümee
Am Tempelhof versuchen wir, die wir alle aus einer konkurrenzorientierten, hierarchischen Welt kommen, zu einem kooperativen Miteinander und einer freien Resonanzkultur (egofreies Hören und Feedback) zu kommen.Dieser Kulturwandel fordert Üben, Üben, Üben: Sich selber zu lauschen und mit sich in Frieden zu kommen, anderen wirklich zuzuhören, ehrliches Feedback ohne versteckte emotionale Anteile…. Und dies im prallen Leben der Tempelhofbetriebe, des Familienlebens, der Berufstätigkeit.
„Die zunehmende Achtsamkeit und kollektive Weisheit in den Intensivtagen haben mich sehr berührt und dankbar werden lassen. Ich hatte den Eindruck, dass über die Jahre unsere Liebesfähigkeit gewachsen ist, ohne dass dabei die Wahrhaftigkeit vernachlässigt wurde.“ Erdmute
Mit 2018 gehen wir in das zweite Jahrsiebt des Tempelhoflebens. Mir kommt es vor, als sei „etwas“ in unserem Miteinander zum Abschluss gekommen und wir hätten den Grundstein für eine neue Entwicklung gelegt. So viel Verbundenheit am Ende einer Intensivzeit war noch nie spürbar. Einige waren in den letzten Jahren innerlich oder auch äußerlich in Distanz gewesen zur Gemeinschaft und haben in der Abschlussrunde geäußert, jetzt seien sie wieder „voll da“.
Bericht von MarieLuise Stiefel, mit Zitaten von TeilnehmerInnen