Pragmatismus im Dienst der Vision

Rainer Kaltenecker war von 2016 bis 2018 geschäftsführender Vorstand der Genossenschaft und hat diese Aufgabe in einer Phase übernommen, als wir auf organisatorischer Ebene eine bewusstere Unterscheidung von Belangen des Zusammenlebens als Gemeinschaft und der Wirtschaftsbetriebe am Tempelhof eingeführt hatten.

Rainer, du bist 2016 Teil unserer Gemeinschaft geworden und hast auf unseren Wunsch hin sofort die Funktion des geschäftsführenden Vorstandes der Tempelhof eG übernommen. Du hast uns dein gesamtes Knowhow aus 20 Jahren Unternehmersein zur Verfügung gestellt, hast sicher mehr als eine 100%-Stelle ausgefüllt – und dies ehrenamtlich. Was ist dein persönlicher Gewinn aus dieser Zeit?

Der größte Gewinn lag im Bewusstwerden, wo ich hinsichtlich eines kooperativen bzw. evolutionären Führungsbildes stehe. In wie weit bin ich in der Lage und auch Willens, Lösungen und Entscheidungsprozesse so zu gestalten, dass alle mitgehen können? Wo bin ich noch zu sehr mit eigenen Vorstellungen identifiziert, wo kann oder will ich die Meinung des anderen nicht hören? Der Konsens zwingt mich als Unternehmer in die Kompetenz „Zuhören“ hinein, ohne dass ich Kompetenz „Entscheiden können“ verlieren darf. Ich bin ganz sicher eine noch verantwortungsbewusstere und feinfühligere Führungskraft geworden.

Und mir wurde verstärkt bewusst, wie kulturprägend ich als Führungskraft auf den gesamten Betrieb wirke. Es liegt schon sehr an den prägenden Menschen, ob die Kultur des Betriebes angst- oder vertrauensbasiert ist.

Ach, zwei Seelen wohnen in meiner Brust

Du als „gelernter“ Unternehmer in der klassischen Wirtschaft bist hier in ein Feld gekommen, in dem etwa 80 Eigner (Genossen) mit einem Selbstverständnis von AllLeader die Möglichkeit zur Mitgestaltung haben und gleichzeitig auch die Nutznießer der Leistungen unserer Betriebe sind, also die Kunden.
Was hast du als spezielle, dir neue Herausforderungen erlebt? Wie bist du damit umgegangen? Was hat dich dabei unterstützt?

Nicht nur, dass wir Tempelhofer Eigentümer wie Kunden unserer Unternehmen sind, wir arbeiten und leben ja auch zusammen. Unsere Betriebe investieren viel Zeit in die Erkundung der Bedürfnisse ihrer „Kunden“, das heißt, in Information und Austausch mit den Mitgliedern der Gemeinschaft. Bis wir letztlich betriebliche Entscheidungen treffen können, braucht es manchmal mehrere Austausch- und Entwicklungsrunden. Da geht es auch darum, dass sich die „Kunden“ klar werden, dass beklagen nicht reicht, sondern Kritik am vorgelegten Lösungsvorschlag zur Mitgestaltung einlädt. Wer immer nur über den eigenen Betrieb klagt, ohne an seiner Verbesserung aktiv mitzuwirken, verliert auf Dauer, meines Erachtens, die innere Legitimation zur Kritik. Diese beiden Rollen, Unternehmer und Kunde, mit ihren widersprüchlichen Interessen in sich zu beheimaten, müssen wir lernen, immer wieder neu, und durch diesen Lernprozess gehen wir hier. Das ist natürlich gelegentlich frustrierend und schmerzhaft, aber ich glaube, dass wir hier eine notwendige Voraussetzung erlernen, um eine andere, verbundenere Ökonomie wirklich leben zu können. Es fordert und fördert in uns die Fähigkeit, scheinbar Widersprüchliches in einem erweiterten Bewusstseinsraum zusammenzuführen. Wenn wir das erreichen sollten, können wir von Transzendenz sprechen. Diese scheinbaren Widersprüche waren für mich die größte Herausforderung bzw. diese Frage hat mich fortlaufend begleitet.

Führen heißt, Entscheidungsprozesse organisieren

Obwohl ich in meinem Betrieb früher schon immer weniger selber die Lösungen ausgearbeitet habe, war hier meine Fähigkeit, einen passenden Entscheidungsprozess zu entwickeln, noch viel stärker gefordert. Welche Kompetenzen benötigt die betriebliche Fragestellung und wie machen wir die Mitentscheider kundig,  welche Menschen beziehen wir wann in den Prozess mit ein. Welche (versteckten) sozialen Aspekte beinhaltet die betriebliche Fragestellung, z.B. welche Ängste und Verletzungen können davon berührt sein und welche Räume gestalten wir, damit diese von Anbeginn bei der Lösungsfindung integriert werden. Intuition, Inspiration wurden mir immer wichtiger, soziale Kompetenz, auch die Fähigkeit zum Streit und Umgang mit Konflikten braucht es, gleichrangig neben Kompetenz, Effizienz und finanziellen Aspekten.

Geholfen hat mir, dass die Vorgänger im Amt noch verfügbar waren. Die Übergabe gelang so fließend und bei Fragen, oder auch in Momenten der Not oder des Zweifels, gab es für mich immer Menschen, die mir zu Seite standen, die mir aber auch kritisches Feedback gaben und sich mit mir gestritten haben.

Rollenmix

Tempelhofer sind nicht nur Eigentümer und Kunden, sondern teilweise auch Mitarbeiter. Ich als Vorstand hatte manchmal für Einzelne „ungemütliche“ Entscheidungen zu treffen und zu vertreten, und dieselben Menschen sind dann auch meine Mitbewohner, denen ich beim Essen, im Cafe oder im WIR-Prozess von Mensch zu Mensch begegne. Da hat mich manchmal schon die Sorge befallen, dass mein betriebliches Handeln mir im sozialen Miteinander der Gemeinschaft negativ entgegenschlägt, ob ich als Mensch Rainer überhaupt eine Chance habe, wenn mich jemand mit der Vorstandsrolle identifiziert.

Professionalisierung der Verwaltung

In den Anfängen unserer Gemeinschaft dachten wir noch, ein Handschlag sei ausreichend z.B. für einen Arbeitsvertrag. Schritt für Schritt hat uns dann jedoch die Wirklichkeit der bundesdeutschen Arbeitswelt eingeholt und wir wurden professioneller. Du hast noch einmal einen deutlichen Professionalisierungsschub bewirkt, unter anderem mit der Einführung der Kostenrechnung.
Kannst du sagen, warum dies Sinn machte?

Wir betreiben als Gemeinschaft 10 sehr unterschiedliche Betriebe. Wer hier den Überblick behalten will, braucht eine funktionierende Verwaltung, die mit der betrieblichen Komplexität mitgeht. Dazu zählen Buchhaltung, Personalverwaltung und Finanzplanung und -controlling.

Die Gemeinschaft Tempelhof unterhält 10 Betriebe. Wohn- und Gewerbegebäude, Landwirtschaft/Gärtnerei, Großküche/Bäckerei, Hofladen, Cafe, Carsharing, IT, Gästehaus/Catering in der Hand der Genossenschaft, Schule und Seminarbetrieb in der Hand des Vereins. Für alle sind Einzelhaushalte aufzustellen, zu besprechen, zu entscheiden und zu verwalten. Im Jahr 2018 betrug das Umsatzvolumen der eG ca. 1,5 Mio Euro, des Vereins ca. 1 Mio Euro. Die GeschäftsführerInnen der 5 großen Betriebe (eG und Verein) sowie die Leitung der Verwaltung (sie vertritt die kleineren Betriebe mit) koordinieren sich im sog. Unternehmenskreis. Dieser tagt 14tägig öffentlich – jedes Mitglied der Gemeinschaft kann im Außenkreis teilhaben, sich auch zu Wort melden und die Protokolle beziehen. Die Vollversammlung aller Gemeinschaftsmitglieder (Dorfplenum) hat festgelegt, welchen Entscheidungsspielraum der Unternehmenskreis und die einzelnen Betriebe haben und was vom Dorfplenum entschieden wird.

Eine funktionieren Verwaltung schenkt Gestaltungsfreiheit

Kostenrechnung ist kein Selbstzweck oder Mittel zu effizienterer Ausbeutung, sondern ein Werkzeug, um Zeit zu gewinnen für die inhaltliche Arbeit an unseren Zielen. Pragmatismus im Dienst der Vision, so sehe ich das.
Die Einführung der Kostenrechnung hat den monatlichen Vergleich von Plan- und Ist-Zahlen deutlich vereinfacht, die Zahlenbasis verlässlicher gemacht und wir brauchen heute viel weniger Zeit, um die Zahlen aufzubereiten. Die gewonnene Zeit kommt der inhaltlichen Arbeit in den Betrieben zu Gute. Das Gefühl, die Finanzen im Griff zu haben, führt zu Entspannung und fördert die Lust, unternehmerisch tätig zu sein, weil es Raum für Kreativität schafft. Wenn ich als Gärtner oder Seminarleiterin immer mehr Zeit mit Verwaltungsaufgaben zubringe, die ich zumeist auch gar nicht gut beherrsche, fühlt sich mein Alltag ganz schnell aufgezwungen an. Der eigentliche Grund meiner Tätigkeit rutscht dann weg und die Freude auch. Ein Grund, warum in Gemeinschaften die Besetzung von Führungsämtern so schwierig ist.

Und der Mensch Rainer?

Jetzt hast du ein Jahr Auszeit von allen Ämtern und Funktionen vor dir und wirst frei von besonderen Verpflichtungen Teil der Gemeinschaft sein, ausschließlich als „Mensch Rainer“.
Wie schaust du auf diese Zukunft?

In erster Linie löst die Aussicht auf die Auszeit Erleichterung in mir aus. Für so lange Zeit in der Verantwortung für ein Unternehmen und seine Menschen zu stehen, drückt gelegentlich ganz gewaltig. Diese Verantwortung lege ich auch nicht ab, wenn ich abends nach Hause komme. Die Auszeit löst Neugier in mir aus. Wie wird es mir ergehen? Halte ich den ganzen Freiraum aus, oder falle ich gleich wieder in irgendwelche Aktivitäten? Habe ich auch ein JA zu mir, wenn ich einfach nur bin?

Ich wünsche mir Entschleunigung, meinen eigenen Rhythmus, meine eigene Geschwindigkeit zu erkennen. Und ich wünsche mir, meiner inneren Stimme mehr zuzuhören. Dafür braucht es meine Präsenz in der Stille. Ich hoffe, es wird ein stilles Jahr. Danach wird der Fluss des Lebens sicher wieder Aufgaben für mich bereit halten, die Gehirn, Herz und Körper erfüllen werden. Und darauf freue ich mich auch.

Lieber Rainer, herzlichen Dank für deine Gedanken und die Zeit, die du dir genommen hast.

MarieLuise Stiefel

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