Am 30. Mai fanden in der Schloss Tempelhof eG Neuwahlen des Vorstands statt. Wir werden in der nächsten Ausgabe darüber berichten und einen Überblick über unsere neue Organisationsstruktur geben. Im Interview blicken MarieLuise Stiefel, Martina Jacobson und Pascal Suter auf ihre Zeit als Vorstand zurück.
Mehrere Jahre wart ihr Vorstände in der Genossenschaft von Schloss Tempelhof – Glaubt ihr, dass eine Gemeinschaft Hierarchieebenen benötigt?
MarieLuise: Nein, eine Gemeinschaft braucht keine Hierarchieebenen, sie braucht aber eine Rechtsform. Wir haben die Form der Genossenschaft gewählt. Daraus entstand die Notwendigkeit eines Vorstands. Die Gemeinschaft braucht lediglich eine funktionale Differenzierung. Hierarchie bildet immer ein Machtgefälle ab, wohingegen die funktionale Differenzierung bedeutet, auf Augenhöhe zu sein. Jemand kann Kraft seiner natürlichen Autorität wirken oder weil er den Überblick über das Ganze hat. Ich fordere inzwischen ganz klar eine Leitung in den Projekten. Leitung verstehe ich dabei eher wie „Raumhalten“
Pascal: Ich glaube, es braucht auf jeden Fall eine Hierarchieebene, weil sie an vielen Stellen hilfreich und sinnvoll ist, um ein komplexes Gebilde gut zu halten. Ich glaube, sie wird sich immer ausbilden, wo Menschen zusammen sind, weil sie unterschiedliche Fertigkeiten, Informationsstandpunkte und ein unterschiedliches Charisma haben. Für mich ist die entscheidendere Frage, wie Gemeinschaft mit Hierarchie umgeht und ob wir die klassische Bewertung von Hierachie als „böse“ loswerden können.
Die Gemeinschaft lebt das All-Leadership-Prinzip. Wie passt das zu Hierarchie?
MarieLuise: Ich hatte lange mit dem Thema zu tun: Wenn wir All-Leader sind, kann ich dann leiten? In unserer Schulgründungzeit am Tempelhof hatte ich die Projektleitung übernommen und dennoch echt Hemmungen zu sagen: „Ich bin Projektleiterin!“ Heute sehe ich Leitung im Sinne von Verantwortung übernehmen mit dem Blick aufs Ganze. Ich würde daraus jetzt nicht irgendwie eine Macht ableiten.
Martina: Aber du hast Macht dadurch! Ich wollte Macht eigentlich gar nicht haben, weil sie für mich negativ belegt war. Aber ich muss anerkennen, dass ich Macht habe, wenn ich auf das Ganze blicke, Zusammenhänge verstehe, und wenn ich von anderen eine gewisse Autorität bekomme. Ich stelle mir eher die Frage, wie bewusst gehe ich mit dieser Macht um und welche Privilegien gehen damit einher? Wo liegt möglicher Machtmissbrauch oder Status? Kann ich gleichzeitig in Gemeinschaft Klos putzen und trotzdem in einem anderen Feld die Leitung übernehmen? Fühle ich mich dann trotzdem noch auf Augenhöhe mit meiner Gemeinschaft oder als etwas Besseres?
Hattet Ihr das Gefühl, ihr brauchtet bestimmte Fähigkeiten?
Pascal: Sicher ist die Fähigkeit wichtig, zu differenzieren, aus welcher Rolle ich gerade spreche. In einer Gemeinschaft hat man viel Rollen. Ich war Vorstand, Moderator, Projektleiter aber auch Gemeinschaftsmitglied. Ich muss mir klar machen, mit welchem Hut spreche ich jetzt oder sprechen Menschen mich an, mit wem reden sie gerade. Zu sehen, dass er oder sie mich nicht persönlich meint. Gut zu schlafen, die Nerven nicht zu sehr zu verschleißen, das ist eine Basisfähigkeit. Das wünsche ich dem nächsten Vorstand.
Martina: Sich in Gemeinschaft selbst zu reflektieren und zu verändern ist wichtig. Egal aus welchem Hintergrund ich komme, in Gemeinschaft ist vieles anders und neu. Das musste ich erst lernen. Für mich ist das Wichtigste Kommunikation, Zuhören können, in Beziehung gehen mit ganz vielen unterschiedlichen Menschen.
MarieLuise: Darf ich euch was fragen? Wenn ihr im Dorfplenum das Wort ergreift, habt ihr das Gefühl, ihr sprecht jetzt als Vorstand oder als Ich?
Pascal: Das kommt echt darauf an. Manchmal spreche ich als Vorstand, manchmal als Hausverwaltung, oft war ich Moderator und manchmal auch als Pascal. Wenn ich das nicht klar gemacht habe, dann ist mir die Situation sofort um die Ohren geflogen.
Gab es Schwierigkeiten, gleichzeitig Genosse und Vorstand zu sein?
Martina: Am Anfang habe ich mit der Doppelrolle gehadert und gedacht, die Gemeinschaft müsste sie doch trennen und mich nicht immer in den Topf mit dieser Funktion werfen. Irgendwann habe ich gemerkt, woher soll denn jemand wissen, aus welchem Raum ich spreche? Es ist meine Aufgabe, dies deutlich zu machen, vor allem bei Meinungsäußerungen. Es muss klar sein, dass es meine private Meinung ist oder die des Vorstands, denn entsprechend viel Macht und Autorität wird der Information eingeräumt.
Pascal: Ja, bei der Vorstellung des Jahresberichts in der Generalversammlung, da habe ich es tatsächlich am stärksten gefühlt. Obwohl es bei uns relativ informell ist, habe ich es trotzdem gemerkt: „Oh, jetzt bin ich Repräsentant!“ Das hat mich von der Gemeinschaft getrennt.
MarieLuise: Ich kann da gar keinen Unterschied machen. Ich bin einfach von meinem Naturell her eine Führungsperson und da gibt es keinen Unterschied, ob ich als Vorstand oder MarieLuise spreche. Ich spreche immer aus dem Raum, den ich überschaue. Als ich die Verantwortung für den Personalbereich im Vorstand übernommen habe, hat sich ein neuer Raum aufgetan, den ich zu überschauen hatte. Also kann ich jetzt dazu etwas sagen, was ich zuvor nicht gekonnt hätte.
Martina, du hast eben Macht angesprochen: Wie geht man damit um?
Martina: Als Finanzvorstand habe ich erfahren, dass viele Menschen aus der Gemeinschaft mit dem Bereich Recht und Finanzen nicht viel zu tun haben wollen, auch nicht den Kompetenzhintergrund haben und deshalb häufig die Verantwortung abgeben. So bekommt man plötzlich Macht. Ich sähe es lieber, die Leute setzten sich mit den Themen auseinander. Heute formuliere ich meine Meinung z.B. bei Finanzentscheidungen, die andere vorbereitet haben, viel vorsichtiger und achtsamer. Ich versuche Raum zu lassen, damit andere sich hineinentwickeln können und gleichzeitig möchte ich sie mit meiner Kompetenz zu unterstützen.
Pascal: Mit Macht muss man schon aufpassen, ich muss sensibel umgehen mit meinem Wort. Anscheinend hat es mehr Gewicht oder wird lauter gehört als das anderer. Dies wahrzunehmen und verantwortlich damit umzugehen, ist auf jeden Fall etwas, was ich lernen musste.
War der Wunsch nach Veränderung die Motivation, in den Vorstand zu gehen?
Pascal: Mit Martina und MarieLuise hatte ich vor unserer Vorstandswahl ein Papier erarbeitet, das die Struktur der Gemeinschaft anders darstellte: mehr Projektautonomie, größere Mitgestaltungsmöglichkeiten, mehr Gemeinschaftsleben… Dieses Papier war quasi ungeplant unser Bewerbungsschreiben für die Vorstandswahl. Wir wurden vorgeschlagen, obwohl ich das nicht im Sinn hatte.
Martina: Alles hat sich organisch entwickelt. Zunächst hatte ich ein Jahr unsere Plenen moderiert, da konnte ich mich bereits in die Struktur eindenken. Die Vorstände und Gründer wollten zurücktreten, mehr Menschen sollten mitmachen und Verantwortung übernehmen, auch jüngere, wie Pascal und ich. Ich wünschte mir Veränderungen in der Gemeinschaftsstruktur und dass nach der Pionierzeit eine neue Phase beginnt. Eine Pionierzeit braucht viel Klarheit und Umsetzungskraft, dabei kommt anderes zu kurz. Mit war wichtig, dass Zwischenmenschliches in der Gemeinschaft wachsen kann, dass Verwurzelung stattfinden konnte und ein dichteres Feld geschaffen wird – also Verbindung und Integration. Mit weiblichen Qualitäten wollte ich mich den Herausforderungen des großen Ganzen stellen. Ich wusste, dass mich das an meine Grenzen bringen würde, und genau das bot mir die Chance, mich persönlich weiterzuentwickeln.
Pascal: Ich wollte am Puls der Entwicklung und Information sein, das bin ich nur in verantwortlicher Position. Vorher war ich Bauarbeiter und Begleitung in der Küche. So konnte ich eine andere Perspektive gewinnen und mich der Verantwortung stellen sowie einen wirtschaftlichen Organismus verstehen lernen.
Sind Wünsche in Erfüllung gegangen, die ihr mit dem Amt verbunden habt?
Pascal: Ich hätte nicht gedacht, dass es so langweilig ist (lacht). Wir wollten alles anders machen: zum Beispiel unsere Ökonomie neu denken, einen Tempelhof-Taler oder eine eigene Altersvorsorge einführen. Wir merkten bald, dass das der Rechtsrahmen gar nicht oder nur teilweise zulässt. Das war sehr mühsam und deprimierend.
MarieLuise: Anfangs stellte sich die Frage, wie wir Vorstände unsere Aufgaben aufteilen und wofür ich stehen wollte. Für mich war es wichtig, für „die Weiterentwicklung unserer Kultur des Miteinanderlebens und des Miteinanderwirtschaftens“ zu gehen. Ich sah es an der Zeit, die weibliche Kraft mehr einzubringen und habe dann gemerkt, dass dafür die Funktion des Vorstands nicht bedeutsam ist. In einer All-Leader-Kultur hängt es mehr von mir als von meinem „Amt“ ab, was ich bewirke. Die bewusste Entwicklung des Miteinanders geschieht im Wesentlichen in unseren Intensivzeiten oder in thematischen Arbeitsgruppen. Da war und bin ich immer gestaltend dabei. Und manchmal muss man auch warten, bis die Zeit reif für eine Neuerung ist. Ich habe gelernt, dass ich nicht mit meinem Willen Dinge in die Welt bringe. Es bedarf der inneren Ausrichtung, dranzubleiben, und irgendwann reift es von selbst zu einer neuen Gestalt.
Was hat euch geholfen, in die Vorstandsrolle hineinzuwachsen?
Martina: Ich fühlte mich unterstützt durch den Aufsichtsrat, unseren Teambegleiter, den uns die Gemeinschaft bewusst zur Seite gestellt hat, und die Vorstands-Vorgänger…
Pascal: … und Erfahrungen aus Teambuilding-Maßnahmen…
Martina: … und die Spielregeln für Kommunikation und Konflikte; das individuelle Engagement jedes einzelnen Gemeinschaftsmitglieds, mich zu unterstützen und die Wertschätzung für unbequeme Dinge, die der Vorstand einfach leisten muss, beispielsweise der Jahresabschluss. Ganz wichtig war für mich die Entwicklung der Gemeinschaft in den letzten Jahren zum Thema Macht, bei uns „Wirk-Macht“. Da sind wir einen sehr intensiven Weg gegangen aus viel Konfrontation und Projektionen hin zur Auflösung von unreflektierten Mustern in die gegenseitige Anerkennung von Fähigkeiten. Diesen Weg gemeinsam gegangen zu sein, schafft bei mir großes Vertrauen in uns als Gemeinschaft.
Welche Werkzeuge aus der Kommunikations- und Beziehungskultur des Tempelhofes sind in Krisensituationen wertvoll?
Pascal: Unsere sozialen Kreise waren sehr hilfreich, ich habe mich nie allein gefühlt: Männerkreis, Frauenkreis, unsere Konflikträume, das Sozialplenum, in dem wir unsere Gemeinschafts- und individuellen Probleme besprechen können, die Gemeinschafts-Intensivtage für den Blick aufs große Ganze, der Klärraum bei Streitigkeiten, der „Innere Entwicklungskreis“, der sich um Leute kümmert, die aus unserem Sozialrahmen rausfallen könnten und Dauerkonflikte schlichten will… So gelingt es uns, zwischenmenschliche Themen nicht in die funktionalen Ebenen und wirtschaftlichen Betriebe schwappen zu lassen. Kann jemand seine Miete nicht zahlen, ist das nicht das Problem der Hausverwaltung allein, sondern das der Gemeinschaft. Wir haben da eine Lösung zu finden.
Gibt es Erfahrungen als Vorstand, die euch persönlich geprägt haben?
Martina: Ganz sicher wurde meine Konfliktfähigkeit gestärkt und meine Gelassenheit. Ich kann besser mit großer Verantwortung umgehen und Kontrolle abgeben. Anfangs wollte ich noch alles irgendwie im Griff haben. Aber in einer Gemeinschaft dreht sich alles von einem Tag auf den anderen und ich musste lernen, dass ich nicht alles kontrollieren kann.
MarieLuise: Ich bin doppelt so alt wie ihr zwei und habe aufgrund meiner Lebenserfahrung schon viel Leitungs- und Verantwortungserfahrung mitgebracht, das war kein neues Lernfeld für mich. Ich bin an den Tempelhof gekommen wegen einer großen Vision. Und die musste ich nun in eine Rechtsform zwingen, also Personalverträge, Stundenzettel, etc. In diesem Spagat weder auf der Seite der Visionärin noch auf der Seite der peniblen Bürokratin, die ich dabei auch in mir entdeckt habe, runterzufallen, sondern die Mitte zu halten, das hat mich manchmal schier zerrissen. Es bräuchte freiere Rechtsräume, um Neues zu entwickeln. Diesen Teil der Tempelhof-Realität hätte ich ohne Vorstandsjob nicht so intensiv erfahren. Mein persönliches Resümee: Vorstand sein ist echtes Dienen. Also, wenn schon Vorstand, dann in einer Gemeinschaft!
Pascal: Ich fand, wir waren ein guter Vorstand in einer dichten Zeit. Ich musste lernen, eine öffentliche Person zu sein und habe mich ein bisschen meiner persönlichen Freiheit beraubt gefühlt. Es war ein super Übungsfeld, um mich innerlich auszurichten, klarer zu sein, Verantwortung zu spüren und zu tragen. Es war wie eine späte Initiation.
Martina: Vorstand in einer Gemeinschaft zu sein ist intensiv, herausfordernd, nicht nur fachlich, sondern vor allem auf zwischenmenschlicher Ebene, mit viel Potenzial für persönliches Wachstum und Scheitern. Ich habe die Aufgabe bewusst angenommen und konnte erleben wie die Gemeinschaft mich dabei getragen hat. Dies war ein Geschenk, das mir tiefes Vertrauen und Verwurzelung gegeben hat. Hinzu kam, dass ich die Sinnhaftigkeit meiner Arbeit unmittelbar in der Gestaltung unseres Zusammenlebens erfahren konnte.
Was sind eure nächsten Schritte?
Pascal: Ich werde weiter in der Hausverwaltung tätig sein und möchte mehr im Operativen, mit den Händen arbeiten, wieder mehr Sport machen oder öfter Angeln gehen. Schauen, was es außerhalb des Tempelhofs noch so für mich gibt.
MarieLuise: Ich habe viele Ideen. Aber erst will ich einmal zehn Wochen unverzweckte Zeit haben. Danach würde ich gerne dafür sorgen, dass ein Buch über den Tempelhof entsteht, weitere Gemeinschaftsbildungskurse entwickeln, mit unseren Intensivräumen experimentieren. Ich möchte mehr aus einer Seinsqualität heraus die Tage sich entfalten lassen. Ich meine damit nicht faul sein, ich werde weiter zur Verfügung stehen, aber nicht mehr in einer kontinuierlichen Verantwortungsfunktion.
Martina: Du darfst auch faul sein…
MarieLuise: Das liegt mir irgendwie nicht so richtig…
Martina: Nach der Übergangszeit gestalte ich den Aufbau der grund-stiftung am Tempelhof weiter. Auch die Prozessbegleitung bei Gemeinschaftsbildung interessiert mich sehr. Am Tempelhof ist meine Projektliste lang…
Wie könnte Gemeinschaft in fünf Jahren aussehen?
MarieLuise: Da fällt mir ein Bild aus der Musik ein: Freejazz – wir werden eine Gemeinschaft von Freejazzern sein. Ich habe inzwischen verstanden, dass Tempelhof ein einziger und andauernder WIR-Prozess ist. Wenn das allen so bewusst ist, wird sich diese Ausrichtung vertiefen. Was meine ich damit? Ich kann Impulse in den Raum geben, aber ich weiß nie, auf welche Resonanz sie treffen. So wie im WIR-Prozess eben auch, da kann ich die Entwicklung eines Prozesses nicht kontrollieren. Wenn wir uns weiter darin üben, uns authentisch zu begegnen, damit aufzuhören, uns oder andere zu manipulieren, dann wird Verbundenheit in der Tiefe wachsen. Einfach, weil wir verbundene Wesen sind. Wir werden zum Resonanzkörper, der keine Noten braucht für die gemeinsame Musik. Die Musik wird sich aus sich selbst heraus entfalten. Ein hierarchiefreier Raum, in dem einzelne Menschen sich temporär herausheben und Führerschaft nehmen, um dann wieder im Hintergrund weiterzuspielen und anderen den Raum für ihr Thema geben. Wir werden eine Gemeinschaft mit fluiden Strukturen sein.