Das Spiel der Pole

Die persönliche Lebensentscheidung sich ganz den menschlichen Spannungsbögen, der menschlichen Hässlichkeit und Schönheit, der Fülle und dem Mangel, der Schwellen und dem Fluss, der Auflösung und der Form, in Nähe und Abstand gleichzeitig ohne Wertung und Vorbehalt hinzugeben, braucht eine ganz verinnerlichte Entscheidung – und diese Entscheidung fällt nicht leicht. Sie spannt Bewusstsein weit auf – so weit dass es ohne Hintergrund (zu dem ich später kommen werde) zerreißen, entwurzeln und spalten kann. Es ist schwer ganz aus sich heraus zu diesem Spannungsbogen zu stehen – entgegen allen Einseitigkeiten der modernen populistischen Bestrebungen. Immer wieder möchte sich daher ein Pol in den Vordergrund neigen und der andere Pol wird in den Keller unserer Wahrnehmung verfrachtet. Und in gleicher Regelmäßigkeit bricht diese Verdrängung in sich zusammen in persönlichen Krisen, Abbrüchen und Rückzügen.

Diese Systematik erkennend kann ich für mich annehmen, dass Übergangsprozesse dazu da sind, die Leere zwischen den Gegensätzen erlebbar zu machen und ganz neue Zusammenhänge, Bedeutungen der jeweiligen Spannungsbögen aufzuzeigen. Plötzliche tauchen andere Möglichkeiten wie aus einer anderen Wirklichkeit auf. Am Rande dieses Möglichkeiten-Feldes können verschiedene „Handlungsfäden“ gleichzeitig und nebeneinander wie hinein in die greifbare Welt erahnt und „angelebt“ werden – wenn ich den Blick „weit“ halten kann und keine Möglichkeit bereits zu Beginn den Vorzug gebe.

Ein wesentlicher Faktor dieser Übergangsprozesse und ihrer Inkarnationen hinein in die Materie ist für mich Vertrauen: Für den Einzelnen bedeutet dies, dass sich im Hintergrund dieser scheinbar zerreißenden Prozesse der aufgespannten Polaritäten grundsätzliches Vertrauen zum Leben oder einer größeren Kraft ahnen lässt. Im Miteinander bedeutet es, dass trotz meiner Andersartigkeit, Menschen auftauchen oder nicht fortgehen, die diesem menschlichen Experiment vertrauen, mir vertrauen. Dieses Vertrauen im Innen und im Außen ist der Kitt, der den Spanungsbogen hält: das scheinbar Unvereinbare kann nebeneinander stehen und immer näher zusammenkommen, ohne dass es dazu von Menschen gemachte konzeptionelle Prozesse bräuchte. Und Vertrauen ist auch die stete Erinnerung für denjenigen, der sich auf diesen mystischen Prozess einlässt, immer tiefer in die ganz eigene Wahrheit zu forschen.

Dabei geht es für mich nicht darum, dem Gegenüber und dessen Erwartungen, Haltungen gerecht zu werden – und auch nicht darum blind zu vertrauen. Es geht um den intentionalen Raum aus dem Vertrauen aufsteigt und darum, sich damit zu verbinden: jemand kritisiert mich z.B., reibt sich an mir – und ich nehme dabei wahr, dass er aus einem tiefen, verbundenen, freundschaftlichen Raum spricht. In dieser Wahrnehmung lerne ich ihm zu vertrauen…

Was kann dies auf einer sozialen und gesellschaftlichen Ebene bedeuten?

Für mich drückt sich in den scheinbaren Unverträglichkeiten innerhalb unserer Welt ein grundlegender Konflikt aus: wenn Kultur als Einheit verstanden wird, die im gesellschaftlichen Konsensprozess Angleichung bewirken muss, dann werden so letztlich Meinungs- und Handlungserwartungen etabliert. Wenn sich Polaritäten in Ausdruck und Handlung aber nicht mehr neben einander stellen, sich ertragen und aushalten, sich ergänzen können, dann werden sie sich irgendwann bekämpfen. Genau diese Bewegung ist gerade in der Gesellschaft zu erkennen. Hier ist mir die Gemeinschaftserfahrung ein sehr wertvoller Spiegel: Auch bei uns in einem kleineren gesellschaftlichen Rahmen entstehen seit einiger Zeit Vorstellungen, was denn „herzlich“ oder „Gemeinschaft leben“, Liebe oder „miteinander“ bedeutet. Es entsteht eine angeglichene Sprache, die mehr und mehr zur Erwartungshaltung mutiert. Es entstehen Handlungsmuster. Menschen werden auch einmal bei uns angegangen, wenn sie am „Rande“ agieren bzw. es wird versucht ihnen „zu helfen“ sich anzupassen. Integration oder Konsens werden zur Vorgabe. Das Miteinander auch radikaler Gegensätze, die in Sprache und Handlung erleb- und spürbar werden, kann sich so nicht entfalten.

Dabei spreche ich nicht von, „jeder macht was er/sie will“. Es geht um Bewusstwerdung, eine persönliche stete Forschungsreise, sich den eigenen Lebenslügen stellen, Polaritäten in mir selbst aufspannen lernen – und so „Leben/ Gott“ oder wie ich es auch immer nennen mag, einzuladen durch mich zu wirken. Denn in der Annahme von Polaritäten in mir und in dieser Welt lerne ich mehr und mehr Anhaftungen oder Widerstände loszulassen, bewege mich aus den selektiven Wahrnehmungen und Festlegungen und werde empfänglich für Eingebungen und Intuitionen. Dabei werden sich Haltung und Worte für andere nicht unbedingt konsensual zeigen – die Pfingstlerbewegung praktizieren und frühe christliche Texte sprechen von der sogenannten „Zungensprache“, die keiner mehr im kulturellen Sinne „verstehen“ kann.

In diesem Sinne nehme ich gerade aus einem ganz persönlichen Verinnerlichungsprozess einen Platz ein, der Pole nebeneinander stellt – und versuche dies auszuhalten. Ich versuche darauf zu vertrauen, dass dies nicht vorrangig aus meinen neurotischen inneren Prozessen geschieht, sondern im besten mystischen Ausdruck, bereits Teil einer größeren notwendigen Entwicklung ist. So würde sich dann tatsächlich unser Gründungsimpuls, der ja auch anfänglich aus einer persönlichen Notwendigkeit Einzelner in die Gemeinschaftsgründung geführt hat, weitertragen, erweitern und von bereits wieder gewonnenen Vorstellungen in unserer Gemeinschaft entkoppeln – Vorstellungen, die sich im Miteinander von Menschen immer strukturieren wollen.

Dieser Gründungsimpuls, beheimatet in der Vergangenheit und gestärkt aus gewonnenen Erfahrungen, muss immer wieder anregen, auch die aus ihm bereits wieder gewonnenen Vorstellungen zu verändern, ja sogar heilige Kühe der ursprünglichen Gründungsvision loszulassen: für welche Menschen in welcher Lebenslage ist eine große Gemeinschaft überhaupt sinnvoll? Braucht es immer Konsens? Kann ich mich, gegen alle kulturelle Ansichten „nackt“ ( das wäre z.B. schon zu sehr eine Gemeinschaftssprache), also eher „streng und ausschließlich“ in den Windstellen? Und darauf vertrauen, dass ich andere und die Welt trotzdem weiter mittrage und ebensoandere mich tragen – also ich kein Egoist bin und weiter liebenswert bleibe? Und warum spannen wir nicht auch gesellschaftlich die Pole ganz weit auf, so dass sich die Welt darin in ihrer ganzen Breite, in einem „großen“ Bild wieder entdecken, austauschen und annähern kann? Bestenfalls…

Die Gefahr der dogmatisch begründeten Unterdrückung von allen, die nicht denken wie einer der Polvertreter, besteht in solchen polaren Modellen – stärker als in gesellschaftspolitisch „gemittelten“ Prozessen. Entstehen deswegen assimilierte Gesellschaften? Angepasst, künstlich und standardisiert individuell? Gut erkennbar in den pseudoharmonischen Anfangsphasen unseres gemeinschaftbildenden WIR-Prozesses. Sollten wir „Vielfalt in Polarität“ nicht mutiger und gelassener weder arrogant negieren, noch ängstlich ausschließen? Und uns den Polaritäten der Welt ernsthaft und fröhlich, mutig und ängstlich, mit wachen lebendigen Da-Sein stellen? Kann das gelingen?

Ein geschützter Raum, eine vertrauensvolle Sangha (spirituelle Gemeinschaft), macht es in meiner Beobachtung leichter sich den Polen der Welt zu stellen, mir selbst darin zu begegnen. Eine Familie,eine Gemeinschaft, eine dörfliche Heimat oder auch ein bestimmter Glaube schenkt den Mitgliedern Wurzel- und Nährboden – und damit Vertrauen. Dies verbunden mit einer gewissen existentiellen Unabhängigkeit, wie viele es im Westen erreichen konnten, wäre eigentlich eine wunderbare Voraussetzung für innere Arbeit und Bewusstwerdung.

Warum gelingt dies dennoch oft nicht?

Viele von uns sind in einem System des ständigen Vergleichs, des Urteilens und Verurteilens und nie“ankommen dürfen“ erzogen worden. Nichts war/ ist gut genug. Die scheinbar vielen Möglichkeiten, die uns die Welt der Dinge bietet, müssen ausprobiert werden. So werden Freundschaften in den Terminkalender gesperrt, Beziehungen auf nützliche Zeit gerechnet, Umzüge nach individuellem Bedarf geplant. Der Wurzelboden von Gemeinschaft wird entblößt und von den scheinbaren Zwangsläufigkeiten unserer schnellen Welt hinweg gespült. Wir bleiben übrig, ohne Bezug, ohne Heimat und nur mit selbstbezogenen Erfahrungen. Auch der radikale Widerstand gegen diese Kondition ist im „Kampf dagegen“ bereits als Urteil verhaftet. Und der lange gesellschaftliche Weg aus Urteilen und Vergleichen hat auch tiefer konditioniert: bin ich es überhaupt wert Selbst-bewusst in der Welt zu stehen? Und wenn ich nichts wert bin, muss ich dann nicht weiter „tun“ um mir Wert zu verschaffen? Diese empfundene Wertlosigkeit ist bei vielen Menschen im westlichen Kulturraum als Motivation für „Ich muss tun“ hinterlegt – was zu einer ständigen Antriebsdynamik und mit zu der Entstehung des harten schnellen Kapitalismus, als äußere Ausweichbewegung geführt hat.

An dieser Stelle kann es in meiner Erfahrung zu einer spannenden Übung werden „für jemanden anderen“ über die persönlichen Schwellen zu gehen, sich so zu verwurzeln und wieder verbundener in die Welt zu wirken. Diese „Für oder hin zu“ Bewegung kann also ganz bewusst verwendet werden, sich zu entwickeln – und damit auch anderen die Einladung zu geben. Miteinander füreinander, als Grundbewegung einer idealen Gemeinschaft, bildet Vertrauen und Dankbarkeit für das So-Sein des anderen. Und es freut mich persönlich, mir in der eigenen Bewegung einzugestehen, dass es einfach schön ist, im Einsatz für andere, die anderen zu erfahren. Hier erlebe ich nicht neurotische Verwicklung („ich brauche jemanden, um meine Schwellen zu überschreiten“), sondern soziale Mensch-Werdung.

ICH und WIR begegnen sich. Gleichzeitig lerne ich, dass es verbindet sich gegenseitig zu brauchen – wenn ich erfahre, dass „ich brauche Euch“ nicht bedeutet „dann passe ich mich den Vorstellungen von anderen an“. Nein, der Ruf zum Anderen ist eher ein Liebesbekenntnis, das erlaubt mit Euch „Fremden“ als Begleitung mein anders Sein vollkommener zu leben und umgekehrt. Niemand muss etwas „machen“, um gemocht zu werden – jeder nimmt den Platz ein, den er füllen kann und an dem er die anderen mitträgt, ohne etwas bewirken zu wollen.

Das Spiel der Pole ist unser großes Lebensspiel – es will Polaritäten eher stärken, als ausgleichen und will sie nebeneinander stehen lassen.

Hinweis: Wer sich für mystische Grenzerfahrungen näher interessiert – vom 22.-26.2.2017 bietet Schloss Tempelhof den Kurs „Wer bin ICH? Wer sind WIR?“ von und mit Wolfgang Sechser an.

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